"Die Kirchengemeinde soll eine Gesamtkonzeption gemeindlicher Aufgaben
erstellen. Die Konzeption soll in regelmäßigen Abständen
überprüft und fortgeschrieben werden." So heißt es
in der neuen Kirchenordnung, die ab dem 1. Mai dieses Jahres gilt. Seit
zwei oder drei Jahren sind die Gemeinden im Rheinland damit beschäftigt,
ihre Konzeptionen zu erstellen.
Das klingt neu, ist in Wirklichkeit aber uralt. Bereits vor zweitausend
Jahren hat Lukas eine Gesamtkonzeption gemeindlicher Arbeit entworfen.
Er hat seine Konzeption in eine Erzählung gekleidet, in die Erzählung
vom Entstehen der ersten Gemeinde. Die Kernpunkte seiner Gemeindekonzeption
hat er in wenigen Sätzen zusammengefasst:
"Die Gemeindemitglieder blieben beständig bei dem, was für
sie als Gemeinde wichtig war:
Sie ließen sich von den Aposteln unterweisen,
sie hielten in gegenseitiger Liebe zusammen,
sie feierten das Mahl des Herrn
mit Freude und lauterem Herzen,
sie beteten gemeinsam und lobten Gott."
Das hört sich gut an, klar und einleuchtend. Aus den weiteren Kapiteln
der Apostelgeschichte und aus den Briefen des Paulus wissen wir aber,
dass das Gemeindeleben selten so war, wie Lukas es hier schildert. Als
er seine Apostelgeschichte schrieb, etwa fünfzig Jahre nach dem Pfingstwunder,
war längst der Alltag in den Gemeinden eingekehrt. Der erste Schwung,
mit dem das junge Christentum Menschen begeistert hatte, war dahin. Vom
Reich Gottes war nach wie vor nicht viel zu sehen. Statt dessen entstand
die Kirche. In den Gemeinden bildeten sich Ämter und Ordnungen heraus
und mit ihnen eine Aufteilung der Gemeindeglieder in solche, die mehr
und in andere, die weniger zu sagen haben. Zeichen und Wunder, die Jesus
getan hat und nach ihm noch einige seiner Boten, gab es immer weniger
zu sehen. Frust stellte sich ein, es gab Spannungen und Spaltungen, Mutlosigkeit
und Langeweile. Viele, die anfangs voller Begeisterung mitgemacht hatten,
wandten sich enttäuscht wieder ab. Auch die, die in den Gemeinden
blieben, kämpften mit Zweifeln, mit Resignation und mit der Feindseligkeit
ihrer Umgebung. Denn man wurde schief angesehen als Christ. Man wurde
für nicht ganz richtig gehalten. Als Minderheit gegen den Strom zu
schwimmen, das ist anstrengend. Und es lähmt, wenn man keine sichtbaren
Erfolge erkennen kann.
Gegen Frust und Resignation, Enttäuschung und Angst hat Lukas angekämpft
genauso wie Paulus und die anderen Evangelisten und Briefeschreiber. Sie
alle wollten den Gemeinde ihrer Zeit neue Kräfte zuführen. Sie
wollten den einzelnen Gemeindemitgliedern Mut machen, am Glauben festzuhalten,
in der Gemeinschaft der Gemeinde zu bleiben. Lukas hat dazu den Gemeinde,
für die er sein Evangelium und die Apostelgeschichte schrieb, den
Urzustand der christlichen Gemeinde vor Augen geführt. Er war offenbar
überzeugt: die Erinnerung an das, was einmal war, kann neue Kräfte
wecken, eine neue Begeisterung entfachen. Diese Erinnerung kann motivieren,
einen solchen Zustand wieder herzustellen. Eine erste Reformation ist
das, was Lukas versucht. Eine Rückbesinnung auf den Ursprung, eine
Wiederherstellung der ursprünglichen Gestalt des Gemeindelebens.
Im heutigen Manager-Vokabular heißt das, was Lukas aufgeschrieben
hat, ein Leitbild. Ein solches Leitbild stellt ein Ziel vor die Gemeinde
hin: So soll es sein unser Gemeindeleben. Da wollen wir hin.
Bei der Erstellung einer Gesamtkonzeption der gemeindlichen Aufgaben geht
es auch heute wieder um die Frage: Wer sind wir eigentlich als Gemeinde?
Was macht uns aus? Und wozu sind wir eigentlich da? Was sollen wir tun?
Immer wieder greifen Menschen bei der Suche nach Antworten auf das Leitbild
des Lukas zurück, orientieren sich an dem, was er als die Grundpfeiler
der gemeindlichen Existenz dargestellt hat: Die Lehre, die Gemeinschaft,
der Gottesdienst, das Gebet.
In jedem dieser Grundpfeiler ist jeweils der gleiche Stoff enthalten,
gleichsam als Bauelement, als Bestandteil, ohne den es nicht geht. Nämlich
die Beständigkeit.
Auf Beständigkeit kommt es an
"Sie blieben beständig beieinander". Lukas beschreibt
damit nicht so sehr ein Tun, ein Verhalten. Sondern er bringt das Wesen
der christlichen Existenz zum Ausdruck. Dafür benutzt er eine Form,
die wir im Deutschen nur selten gebrauchen. Einigermaßen wörtlich
übersetzt lautet der Beginn seines Satzes: "Sie waren beständig
Bleibende".
Von der Beständigkeit lebt die Kirche, die Gemeinde, damals wie heute.
Gemeinde lebt davon, dass Menschen sich aufeinander verlassen können,
dass sie treu und zuverlässig da sind und die Aufgabe erfüllen,
die sie übernommen haben.
Mein Eindruck ist: Beständigkeit ist das, was Menschen heute mehr
und mehr brauchen und suchen. Denn ein Gefühl von Unsicherheit macht
sich breit in unserer Gesellschaft. Viele sind umgetrieben von der Sorge,
dass nichts mehr wirklich sicher ist, dass auf nichts und niemanden mehr
wirklich Verlass ist. Unternehmen und Politiker haben den sozialen Frieden
in unserem Land aufgekündigt. Die unglaublichen Summen, die Chefs
großer Unternehmen einstreichen und sich damit noch im Recht fühlen,
sind nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs. Der schrittweise Abbau
von Arbeitnehmerrechten liegt direkt unter dieser Spitze. Wir waren einmal
stolz darauf, dass soziale Gerechtigkeit und Solidarität mit den
Schwachen in unserem Land wirklich etwas galten. Das ist schon seit längerem
nicht mehr so. Die Reichen haben unser Land zu einem Selbstbedienungsladen
gemacht. Wenn die neuen Hartz-Gesetze umgesetzt werden, wird die Störung
des sozialen Friedens dramatische Ausmaße erreichen. Das verunsichert
nicht nur die, die direkt von Verarmung und Ausgrenzung betroffen sind.
Was gilt heute noch in unserer Gesellschaft, auch in unserer Kirche? Worauf
kann man sich verlassen? Diese Fragen stehen im Raum. Beständigkeit,
Festigkeit, Treue, das sind Werte, die wieder wichtig werden. Je mehr
die allgemeine Verunsicherung um sich greift, desto mehr gewinnen diese
alten Tugenden an Wert.
Mit ihrer Beständigkeit spiegelt die Gemeinde etwas von Gottes Wesen
wieder. Denn Gott ist beständig. Auf seine Treue ist Verlass. "Was
er zusagt, das hält er gewiss." Mit der Menschheit hat er einen
Bund geschlossen. Darin hat er sich verpflichtet, seine Schöpfung
zu erhalten, solange die Erde steht. Gott hält seine Zusage. Jahr
für Jahr gibt er seinen Segen, dass Korn und Früchte auf der
Erde wachsen. Genug für alle. An ihm liegt es nicht, wenn trotz des
Reichtums seiner Schöpfung so viele Menschen hungern.
Für Gottes Beständigkeit legt auch unsere schöne Kirche
ein sichtbares Zeugnis ab. Seit hundertundeinem Jahr versammeln sich hier
Menschen an Sonn- und Feiertagen zum Gottesdienst. Hier sind Menschen
getauft, konfirmiert, getraut und betrauert worden. Für viele ist
dieser schöne Bau eine Zuflucht. Sie wissen: Dorthin kann ich gehen,
wenn mir das Herz schwer ist, wenn ich das Bedürfnis nach Ruhe, nach
Gottes Wort und der gemeinschaftlichen Feier in Gottes Nähe habe.
Dieses Haus ist ein Ort der Beständigkeit. Darum empfinden Menschen
hier ein Gefühl von Heimat und fühlen sich hier geborgen. Das
gilt nicht nur für die Menschen, die treu sonntags hierher kommen.
Das gilt auch für viele andere, die hier im Ort wohnen. Allein dass
dieser Bau hier steht, dass man da hingehen kann, wenn man das Bedürfnis
dazu hat, allein das schafft Menschen Beruhigung, Halt und Sicherheit.
Bestand hat dieser Kirchenbau, weil Gott ihm Bestand gibt. Sein Wort,
um das Menschen sich hier versammeln, erhält die Gemeinde und auch
diesen Kirchenbau am Leben. Die lange Zeit, die diese Gemeinde und diese
Kirche nun schon bestehen, spricht für die wirksame Kraft des göttlichen
Wortes. Gottes Wort lockt in jeder Generation neu Menschen an. Sein Geist
schafft immer wieder neu in Menschen das Bedürfnis nach der Gemeinschaft
um sein Wort. Und er schafft Glauben, dass Menschen im Vertrauen auf das
Wort leben und handeln.
Wie sieht das aus, das Leben und Handeln im Vertrauen auf Gottes Wort?
Genau das beschreiben die Punkte, die Lukas in seinem Leitbild von Gemeinde
nennt. Ich greife ein paar heraus.
Drei Aufgaben der Kirche heute: Gott loben
"Sie lobten Gott". Ein Nachfahre des Lukas, der Reformator
Calvin hat diesen Gedanken fortgeführt. Christlicher Glaube bedeutet
nach ihm, das ganze Leben als eine Lobpreisung Gottes zu leben. (Holm
Tetens in: Bloß ein Amt und keine Meinung? - Kirche, S.83). Für
eine heutige Konzeption der gemeindlichen Aufgaben heißt das: Die
erste und wichtigste Aufgabe der Kirche sind die Gottesdienste. Alle anderen
Aufgaben wird die Kirche nur dann erfüllen können, wenn sie
sich gestärkt hat im Hören auf Gottes Wort und im gemeinschaftlichen
Lob Gottes. Im Lob und Dank vergewissern wir uns als Gemeinde jeden Sonntag
auf´s neue der Güte und Treue Gottes. Daraus schöpfen
wir Trost und Kraft. Die brauchen wir für die Aufgaben, die uns als
Gemeinde gestellt sind.
Sie soll der Gerechtigkeit dienen
"Sie hielten Gemeinschaft und teilten alle Dinge miteinander und
feierten miteinander das Mahl." Christliche Gemeinde ist ein Ort,
wo es gerecht unter den Menschen zugeht. In der Feier des Abendmahls nimmt
die Gemeinde die Gerechtigkeit, die im Reich Gottes gilt, in ihr Leben
hinein. Alle sind am Tisch des Herrn gleich. Alle bekommen, was sie brauchen,
keiner mehr und keiner weniger als die anderen. Damit stellt die Gemeinde
eine Vision, ein Ziel vor die gesamte Menschheit hin: so soll es sein
unter uns Menschen. Gerecht soll es zugehen. Jeder und jede soll eine
Chance auf einen Arbeitsplatz haben und einen gerechten Lohn für
die Arbeit bekommen.
Für das Ziel einer gerechten Verteilung der Güter soll die christliche
Gemeinde sich einsetzen. Sie soll der Gerechtigkeit dienen.
Das tut Kirche heute vor allem durch ihre vielfältigen diakonischen
Einrichtungen. Da kümmert sie sich um die, die am Rande der Gesellschaft
stehen und versucht denen zu ihrem Recht zu verhelfen, die selbst nicht
in der Lage dazu sind.
Deshalb gehören Gottesdienst und Diakonie, Lob Gottes und tätiges
Eintreten für Gerechtigkeit untrennbar zusammen.
Zu ihrer Aufgabe, das Recht zu ehren, gehört auch die politische
Wachsamkeit der Kirche. Sie muss ihre Augen aufhalten, hinsehen, was in
der Welt geschieht: Wo leiden Menschen unter ungerechten Verhältnissen?
Wer sind diese Menschen? Und wer sind die, die ihr Leiden verursachen,
die davon profitieren? Kirche muss ihren Mund aufmachen für die Stummen,
sich einmischen in politische Diskussionen und immer wieder entschieden
Gerechtigkeit einfordern.
Sie soll ein Zeichen unter den Menschen sein
"Die Apostel taten Zeichen und Wunder." Die dritte Aufgabe
für uns als Gemeinde heute ist die: Wir sollen ein Zeichen sein für
die Menschen um uns her. Kirche insgesamt soll ein Zeichen sein unter
den Völkern. An ihr sollen Menschen erkennen: So ist es, wenn Gottes
Geist unter den Menschen regiert, wenn Menschen im Sinne Jesu leben.
Kirche soll der Gesellschaft mit gutem Beispiel vorangehen. An ihren Strukturen
soll sichtbar werden, wie es aussieht, wenn Geld und Macht gerecht geteilt
werden. Am Miteinander der in der Kirche Tätigen sollen andere Menschen
erkennen können: Hier gehen Menschen geschwisterlich, ehrlich und
offen miteinander um. Hier lassen Menschen sich nicht von der allgemeinen
Ungleichheit und Ungerechtigkeit anstecken, sondern hier lassen sie Gerechtigkeit
gelten.
Bei den vielen Veränderungen, die in unserer Kirche in Duisburg im
Moment anstehen, ist das für mich die vordringliche Frage: Wie machen
wir durch die Art, wie wir uns als Kirche organisieren, etwas von dem
sichtbar, was Gottes Wort uns sagt.
Es ist bezeichnend, dass diese Frage kaum jemand stellt. Ich fürchte,
wir haben uns als Kirche weit entfernt von unseren Ursprüngen. Lukas
stellt ein Leitbild vor uns hin. Drei Elemente daraus habe ich genannt,
die uns helfen können bei unseren heutigen Überlegungen: Was
sind wir als Kirche und was sind unsere Aufgaben?
Wir sollen Gott loben,
der Gerechtigkeit dienen
und ein Zeichen unter den Menschen sein.
Das alles beständig und zuverlässig. So wie der Gott, an den
wir glauben, ein treuer Gott ist. Auf ihn ist Verlass überall und
zu jeder Zeit.
(Die Beschreibung der drei zentralen Aufgaben der Kirche verdanke ich
einem Vortrag von Fulbert Steffensky, den er im Februar 2003 auf der Synode
der nordelbischen Kirche gehalten hat.)
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