Als ich Kind war, habe ich mich manchmal über meinen Großvater
gewundert. Der wohnte mit bei uns ihm Haus. Täglich machte er seinen
Spaziergang. Wenn er zurückkam, hatte er oft ein altes Stück
Brot in der Manteltasche. Das hat er irgendwo am Straßenrand oder
auf einem Bürgersteig gefunden, achtlos weggeworfen. Er sammelte
es auf, zerteilte es zuhause in kleine Bröckchen und gab es den Hühnern.
"Warum sammelt der Opa das alte Brot von der Straße auf?",
habe ich einmal meine Mutter gefragt. Da hat sie mir eine Geschichte erzählt:
Es war kurz nach dem Ende des Krieges. Sie wohnte mit ihrem Vater noch
in Breslau. Ihre Aufgabe war es, eine Gruppe von Kindern zu betreuen,
die im Krieg ihre Eltern verloren hatten. Einmal war sie mit ihren Kindern
auf dem Weg durch die Stadt. Da kam ein Lastwagen mit russischen Soldaten
vorbei. Vor den Russen hatten alle Angst. Doch die Soldaten taten ihr
nichts. Einer von ihnen hatte mit den Kindern. Er nahm ein Brot und warf
es ihr zu. Meine Mutter war überaus froh und dankbar. Denn sie hatte
nichts, was sie den Kindern sonst am Abend hätte zu essen machen
können.
Ein Brot war eine Kostbarkeit für die Menschen im Krieg und kurz
danach. Ein älterer Mann erzählte mir, wie er selber als Soldat
irgendwo im Wald auf der Flucht war. Nirgendwo gab es etwas zu essen.
Ein Kamerad kramte ein altes trockenes Stück Brot aus seiner Tasche.
Jeder brach sich von dem Brot etwas ab. Lange mussten sie das trockene
und harte Stück Brot im Mund halten, bis es weich wurde. Dann erst
konnten sie es kauen und hinunter schlucken. Der Mann erzählte, dass
er geweint hat, als er den Geschmack von diesem trockenen Brot in seinem
Mund spürte. So glücklich war er, etwas zu essen zu haben.
Viele von Ihnen werden ähnliche Geschichten kennen und erlebt haben.
Sie alle gehören zu den Generationen, die kein Brot wegwerfen können.
Denn Sie haben Zeiten der Not, der Entbehrung und der äußersten
Bedrohung hinter sich. Vor zwei Wochen haben wir uns in Duisburg erinnert
an die Bombennacht vor sechzig Jahren. Es war der schlimmste Angriff,
der bis zu diesem Zeitpunkt auf eine deutsche Stadt geflogen worden ist.
Eine, die am 19. März 1944 in der Gnadenkirche in Wanheimerort konfirmiert
wurde, erzählte, dass bald danach die Kirche in Schutt und Asche
lag.
Die Wanheimer Kirche ist stehen geblieben. Aber auch hier haben die Menschen
Angst vor den Bomben gehabt. Der Bunker ist für viele eine Art zweites
Zuhause gewesen. Mitten in den schlimmen Zeiten ist trotzdem hier Konfirmation
gefeiert worden. Der Wanheimer Pastor, Helmut Pickert, war als Soldat
eingezogen. Sein Wedauer Kollege Schindelin hat ihn vertreten und die
jungen Menschen eingesegnet.
Pastor Pickert ist aus dem Krieg zurück gekommen. Er war bis Ende
der fünfziger Jahre in Wanheim. Nach der "Währung"
ging es den Menschen in Westdeutschland langsam wieder besser. Alle halfen
mit, die zerstörten Städte und Betriebe wieder aufzubauen. Neue
Siedlungen entstanden wie hier in Wanheim die Rheinstahlsiedlung. Doch
von dem Wohlstand, wie viele Menschen ihn heute kennen, war man damals
noch weit entfernt.
Zur häuslichen Konfirmationsfeier gab es selbst gebackenen Kuchen,
abends Kartoffelsalat mit Würstchen. Die Mädchen bekamen Sammeltassen
geschenkt, Hortensien, ein Spitzentaschentuch, um das Gesangbuch zu halten.
Eine bekam von ihrem Bruder einen Ring mit Perle, das war ihr schönstes
Geschenk. Eine andere erhielt, ganz praktisch,- Utensilien für die
Schneiderlehre, die sie nach der Konfirmation beginnen wollte. Von bleibendem
Wert war auch die rote Strickjacke mit Reißverschluss, die später
noch Tochter und Enkeltochter getragen haben. Sehr begehrt als besonderes
Geschenk war die Armbanduhr. Geld gab´s so gut wie gar nicht. Wenn
einer dreißig Mark vom Patenonkel erhielt, war das schon ein kleines
Vermögen.
So war das 1954. Brot gab es inzwischen genug. Viele konnten sich sogar
leisten, hin und wieder gute Butter darauf streichen.
Ich komme immer wieder auf das Brot zurück, weil dies 1954 die Losung
war: "Jesus spricht: Ich bin das Brot des Lebens." Die Auswahl
der Jahreslosung wird nicht wie die der täglichen Losungen dem Zufall
überlassen. Sondern die wird gezielt ausgesucht. Sie stellt so etwas
wie eine Zeitansage dar.
Die Botschaft der 54er Losung bezog sich offenbar auf den Hunger, den
die Menschen zu dieser Zeit hatten. Der Hunger nach Brot war inzwischen
gestillt. Aber es gab einen anderen Hunger, der noch lange nicht gestillt
war.
Der Hunger nach Anerkennung zum Beispiel. Der war sehr groß. Wir
Deutschen litten unter der großen Schuld, die wir auf uns geladen
hatten. Unter unseren Nachbarvölkern waren wir nicht wohl gelitten.
Aber wir wollten dazugehören, wieder ein ganz normales Mitglied der
Völkerfamilie sein.
Wohl aus dem Grund war schnell der Vorsatz vergessen, dass Deutschland
in Zukunft unbewaffnet bleiben sollte. Für große Teile der
Bevölkerung war nach dem Krieg eine Wiederbewaffnung Deutschlands
unvorstellbar. Selbst Politiker wie Adenauer und Strauß schworen,
keine deutsche Armee anzustreben. Von deutschem Boden sollte nie wieder
Krieg ausgehen.
Doch schon Anfang der 50er Jahre führte die Regierung Adenauer Geheimverhandlungen
mit der amerikanischen Regierung über die Wiedereinführung eines
westdeutschen Heeres.
Die fünfziger Jahre waren die Zeit des Kalten Krieges. Die Welt spaltete
sich in zwei Lager. Die Bundesregierung schloss sich dem westlichen Verteidigungsbündnis
an. Damit einher ging die Wiederbewaffnung.
Im Oktober 1954 wurden die "Pariser Verträge" unterzeichnet.
Sie regelten die Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO. Deutschland
war wieder ein fast vollwertiges Mitglied der Völkerfamilie.
Ein weiteres bedeutsames Ereignis von 1954 hat auf andere Weise dazu beigetragen.
Es geschah am 4. Juli: Das Wunder von Bern.
Deutschland wurde Weltmeister. Plötzlich hieß es landauf, landab:
´Wir sind wieder wer.` Im sportlichen Wettkampf waren wir sogar
plötzlich die Größten. Einem Triumphzug glich die Heimfahrt
der Helden von Bern. Überall an den Bahnsteigen drängten sich
die Menschen, um Fritz Walter, den Boss Helmut Rahn und ihre Mitstreiter
zu bejubeln. In seiner legendären Rundfunkübertragung hat Herbert
Zimmermann wohl zum ersten Mal einem Fußballer eine göttliche
Weihe verliehen: "Toni, du bist ein Fußballgott!" So rief
er vollkommen außer sich ins Mikrofon. Im Berner Wankdorfstadion
haben nicht nur elf Männer ein Fußballspiel gewonnen. Das ganze
deutsche Volk hat damit etwas von seinem verloren gegangen Selbstbewusstsein
zurück gewonnen. Der Hunger nach Anerkennung bekam durch diesen Sieg
reiche Nahrung.
Von all dem konnte die kleine Gruppe nichts ahnen, als sie den Spruch
für die Losung des Jahres 1954 aussuchte. Aber sie hatte wohl ein
Gespür dafür, dass unser Volk etwas suchte und brauchte, was
den Hunger der Seele stillt.
Die Losung machte zumindest den Evangelischen in Deutschland ein Angebot,
wo sie Nahrung für ihre Seele finden können:
"Jesus Christus spricht: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir
kommt, den wird nicht hungern."
Brot des Lebens haben Sie in den zwei oder drei Jahren Konfirmandenunterricht
mitbekommen in Gestalt der Worte aus Bibel, Katechismus und Gesangbuch,
die Sie gelernt haben. Besonders eingeprägt hat sich vielen die Frage
1 aus dem Heidelberger Katechismus:
Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?
Dass ich mit Leib und Seele, beides,
im Leben und im Sterben, nicht mein,
sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin, der mit seinem
teuren Blut
für alle meine Sünden vollkömmlich bezahlt
und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst hat
und also bewahrt,
dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel
kein Haar von meinem Haupt kann fallen,
ja auch mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss.
Darum er mich auch durch seinen Heiligen Geist
des ewigen Lebens versichert
und ihm forthin zu leben
von Herzen willig und bereit macht.
Jesus Christus, der einzige Trost im Leben und im Sterben. So haben Sie
ihn als Brot des Lebens kennen gelernt. Diesen Trost erfahren Menschen
in den Worten Jesu, in den Worten der Bibel, die auch für ihn selbst
ein Trost gewesen sind. Den Trost Jesu Christi erfahren Menschen in der
Gemeinschaft, die sie in Jesu Namen miteinander haben.
Sie sind damals durch die Konfirmation zu mündigen Mitgliedern der
Gemeinde erklärt worden. Sie waren erst mal froh, nun nicht mehr
regelmäßig zum Gottesdienst gehen zu müssen. Als junger
Mensch hat man einfach noch nicht den richtigen Draht zu dieser Art von
Feier. Bei den meisten jungen Leuten ist das jedenfalls so. Aber Sie haben
der Kirche die Treue gehalten, so dass Sie heute wieder hierher gekommen
sind, um Ihr Konfirmationsjubiläum zu feiern. Und ich glaube, das
kann ich sagen, auch wenn ich Ihre Lebensläufe nicht kenne: Sie haben
sich in all den zurück liegenden Jahren bemüht, ein anständiger
Mensch zu sein, nach den Geboten Gottes zu leben, mit sich und Ihren Mitmenschen
im Reinen zu sein und den Kontakt zur Gemeinde nicht abreißen zu
lassen. So ist für Sie Jesus Brot des Lebens gewesen.
Alle Geschichten, die uns Jesus mit einem Brot in der Hand schildern,
erzählen, dass Jesus dieses Brot geteilt hat. Brot des Lebens erfahren
wir, wo wir unser Leben mit dem anderer Menschen teilen, wo wir Anteil
nehmen an Freud und Leid anderer Menschen und selber anderen von uns Anteil
geben. Solches geschieht in der Gemeinde. Aber nicht nur da. Ich bin sicher,
Sie haben dies in Ihrem Leben auf vielerlei Weise schmecken können.
Jesus nimmt als Brot des Lebens in unserem Leben Gestalt an, wenn wir
seinem Beispiel und seinen Weisungen folgen.
Den Trost Jesu Christi haben Sie schließlich erfahren in dem Segen,
der über Ihnen ausgesprochen worden ist. Der feierliche Höhepunkt
der Konfirmation ist auch heute noch die so genannte Einsegnung. Da wird
durch Handauflegung spürbar der Segen Gottes auf die Menschen gelegt.
Segen ist die gute Kraft Gottes. Segen ist Kraft zum Leben, zum Wachsen
und Gedeihen. Segen lässt Frucht reifen, er lässt gelingen,
was wir beginnen. Der Segen im Namen Jesu Christi bedeutet, dass allezeit
das Lächeln des Mensch gewordenen Gottessohnes mit uns ist. In Freud
und Leid ist er an unserer Seite, hält und führt uns. Wie es
in einem Psalmvers heißt: "Von allen Seiten umgibst du mich
und hältst deine Hand über mir."
Dieser Segen soll heute erneut über Ihnen ausgesprochen werden.
Wir haben bei der Vorbereitung dieser Feier überlegt, dass die Bekräftigung
des Segens ein Teil des Gottesdienstes sein soll. So werden Sie gleich
nach vorn kommen in Gruppen zu dritt oder zu viert, wie damals bei Ihrer
Konfirmation, um sich erneut den Segen zusprechen zu lassen.
Anders als damals werden Sie nicht einzeln einen Spruch mit auf Ihren
weiteren Weg bekommen. Sondern alle werden den gleichen Vers als Denkspruch
erhalten. Es ist der Satz Jesu, der als Losung über dem Jahr 1954
stand. "Jesus Christus spricht: Ich bin des Brot des Lebens."
Nach dem Segenszuspruch feiern wir miteinander das
Abendmahl. Da erinnern wir uns noch einmal ausdrücklich daran, dass
Jesus sich selbst mit dem Brot verglichen hat: Wie das Brot geteilt und
weiter gegeben wird, so hat er sich selbst den Menschen hingegeben: Bedingungslos
hat er seine Liebe verschenkt an jeden, der darum bat. Sein Vertrauen,
seine Hoffnung hat er weiter gegeben, andere Menschen damit angestiftet.
So wurde es möglich, dass Lahme aufstanden, Blinde plötzlich
wieder etwas sehen konnten, Taube hörten. Wenn wir in Jesu Namen
Brot und Kelch miteinander teilen, sollen wir wissen: Er schenkt sich
auch uns, schenkt uns seine Glaubenskraft, seine Hoffnung, seine Liebe.
Es ist eine Liebe, die keine Bedingungen stellt. Wir müssen nichts
dafür tun. Darin erinnert uns auch der heutige Reformationstag. Gott
wendet sich uns zu, er nimmt uns als seine Kinder an, ohne dass wir eine
Leistung erbringen müssen. Anerkennung und Wertschätzung erhalten
wir von ihm umsonst.
Martin Luther hat es in der Erklärung zur vierten Vaterunserbitte
so gesagt: "In das Brot ist alles eingeschlossen, was zu diesem Leben
in der Welt gehört. Nicht bloß, dass unser Leib seine Nahrung
und seine Kleidung und alles andere bekomme, sondern auch, dass wir in
Ruhe und Frieden mit den Leuten auskommen, mit welchen wir leben; kurz,
es gehört alles dazu, was die häuslichen Verhältnisse und
was das nachbarliche und bürgerliche Leben und Gemeinwesen angeht.
In all dem will Gott uns zeigen, wie er sich aller unserer Not annimmt
und treulich für uns sorgt."
Die bedingungslose Liebe Gottes und den Frieden untereinander erfahren
wir, wenn wir uns um den Tisch des Herrn versammeln, Brot und Saft der
Trauben miteinander teilen.
Alle sind eingeladen, von dem Brot des Lebens zu essen. Alle sind eingeladen,
teilzuhaben an der Gemeinschaft im Namen Jesu.
Das Brot, das Jesus uns in seiner Person schmecken lässt, ist eine
kostbare Speise. So kostbar, wie trockenes Brot im Krieg oder kurz danach.
Wie kostbar diese Speise ist, können wir ermessen, wenn wir es entsprechend
würdigen. Das tun wir mit dieser Feier und mit jedem Gottesdienst.
Wir danken Gott, dass er uns Kraft zum Leben gibt und viel Freude darin
erfahren lässt. Wir vergewissern uns, dass er zu allen Zeiten bei
uns ist. Wie er Sie, die Jubilarinnen und Jubilare geführt hat bis
auf den heutigen Tag, so wird er es auch weiterhin tun. Darauf können
Sie sich verlassen.
Jahreslosung von 1944:
"Der Herr ist treu,
er wird euch stärken und bewahren vor dem Argen."
2. Thessalonicher 3,3
Jahreslosung von 1934:
"Des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit."
1. Petrus 1,25
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