Der alte Freund Fritz
Am Montag ist ein wunderbarer Film im Zweiten Programm gelaufen: "Mein
alter Freund Fritz". Damit war nicht ich gemeint. Es ging um einen
Arzt. Er war Chefarzt in einem Krankenhaus, um es genauer zu sagen, ein
anerkannter Chirurg.
Auf der Rückfahrt von einem Kongress gerät sein Auto auf der
regennassen Straße ins Schleudern, überschlägt sich und
bleibt auf einem Acker liegen. Er selbst befindet sich schwer verletzt
in dem Auto. Man sieht, wie die Rettungskräfte sich um ihn bemühen.
Eine andere Szene zeigt ihn, wie er heil und unverletzt über den
Acker geht und dort seinem alten Freund Fritz begegnet. Fritz war ein
Studienkollege, der aber schon vor einundzwanzig Jahren gestorben ist.
Auf diese Weise setzt der Film eine so genannten Nahtoderfahrung ins
Bild.
Viele Berichte von Menschen liegen inzwischen vor, die
an der Schwelle zum Tod gestanden und in diesem Moment erstaunliche Erfahrungen
gemacht haben. Oft schildern sie, dass sie neben sich treten und sich
selbst beobachten, wie sie da liegen und Ärzte sich um sie bemühen.
Es scheint so, als wenn die Seele dieser Menschen sich selbstständig
gemacht habe.
Solche Erfahrungen nimmt der Film auf. Der Arzt steht
gleichsam neben sich und befindet sich auf dem Weg in die jenseitige Welt.
Da wartet bereits sein alter Freund auf ihn.
Menschen mit Nahtoderfahrungen schildern, dass sie längst
verstorbene Angehörige gesehen haben, die auf sie zu warten schienen.
Das Originelle an der Filmgeschichte ist nun: Der Arzt,
um dessen Leben die Rettungskräfte kämpfen, gibt seinem Freund
die Hand und lässt sie nicht mehr los. Der Freund sagt immer wieder,
er solle ihn loslassen, aber der Arzt lässt nicht los. Dann sieht
man ihn wieder in Echtsituation auf der Bahre liegen und langsam zu sich
kommen. Im Krankenhaus kommt er vollständig wieder zu Bewusstsein.
Aber er ist nicht allein im Zimmer. Sein alter Freund Fritz, den er nicht
losgelassen hat, taucht plötzlich auf. Der Arzt sieht ihn ganz wirklich
vor sich und redet mit ihm.
Dabei kommt es zu vielen witzigen Situationen. Denn außer ihm sieht
niemand diesen Mann aus dem Jenseits. Immer fühlen sich Leute angesprochen,
wenn der Arzt mit seinem Freund redet. Schließlich bekommen einige
das Gefühl, er sei nicht mehr ganz richtig im Kopf. Auch seine Frau
fängt an, sich Sorgen um seinen Geisteszustand zu machen. Schließlich
gesteht er ihr, mit dem er dauernd Gespräche führt.
Leute in seiner Umgebung fangen an zu rätseln, was es mit dem alten
Freund Fritz auf sich hat. Ist sein Geist oder seine Seele unterwegs?,
so fragen sie sich. Der Arzt, der inzwischen geheilt und wieder als Chirurg
tätig ist, tut das ab. Er sagt: "Ich habe schon Hunderte von
Menschen operiert und ihr Inneres angeschaut, auf eine Seele bin ich
noch nie gestoßen."
Auch wenn er nicht wirklich an das Vorhandensein einer Seele oder an ein
Leben nach dem Tod glaubt, nimmt er seine Erfahrungen doch ernst. Einmal
sieht man ihn, wie er bei einem alten Mann auf der Intensivstation eine
Visite macht. Schnell ist er wieder weg und lässt den Mann mit seinen
Fragen und Ängsten allein. Täglich spielt sich eine solche Szene
in unseren Krankenhäusern ab.
Doch bevor er davoneilen kann, spricht sein alter Freund ihn an und fragt
ihn, ob er nicht mehr für den Mann tun könne. Der Arzt kommt
ins Nachdenken, geht schließlich wieder zurück ans Bett des
Schwerkranken und redet mit ihm über dessen Sorgen und was er noch
vom Leben erwarten kann. Er wird zu einem wirklichen Begleiter des Kranken
in seiner letzten Lebensphase. Am Ende ist er mehr Seelsorger als Arzt,
denn aus medizinischer Sicht ist nichts mehr zu tun. Aber er hilft dem
Mann zu sterben und seinen Angehörigen, das Sterben anzunehmen.
Anrührende Szenen sind das, die der Film am Sterbebett zeigt. Durch
den alten Freund Fritz findet der Arzt seine eigene Seele wieder. So deute
ich das Geschehen.
Was ist die Seele?
Was die Seele eigentlich ist, das ist ein unterschwelliges
Thema des Films. Ich habe so ausführlich davon erzählt, weil
der Film uns gutes Anschauungsmaterial liefert. Um die Seele geht es mit
nämlich heute. Was es mit ihr auf sich hat, dem will ich ein wenig
nachspüren.
Anlass dazu geben mir die Lieder von Paul Gerhardt, in
denen die Seele immer wieder vorkommt. Paul Gerhardt hat bei seinen Dichtungen
viele Wendungen aus den Psalmen der Bibel übernommen. Das hebräische
Wort für Seele ist das Hauptwort, das am häufigsten in den
Psalmen vorkommt. Es hat also ein besonderes Gewicht und ist es deshalb
wert, dass wir uns einmal eingehend damit befassen.
"Du meine Seele, singe", hat Paul Gerhardt
gedichtet und dabei den Psalm 146 vor Augen gehabt: "Lobe den Herrn,
meine Seele."
Immer wieder stoßen wir in den Psalmen auf Gespräche,
bei denen ein Mensch seiner Seele gegenübertritt. Sie erscheint manchmal
als ein anderes Ich. Der Theologieprofessor Ingo Baldermann, der sich
intensiv mit den Psalmen und darum auch mit der Seele beschäftigt
hat, bezeichnet sie als den Sitz der Emotionen.
Die Seele ist es in den Psalmen, die Freude und Angst empfindet, die unruhig
umher flattert wie ein Vogel, die zu Tode betrübt ist, die weit ihre
Flügel ausspannt voller Sehnsucht nach Freiheit und Glück. Die
Seele ist es auch, die eine Beziehung zu Gott hat: "Er erquicket
meine Seele." So heißt es in Psalm 23.
In seinem Heilandsruf lädt Jesus ein: "Kommt her zu mir, alle,
die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken, eure
Seelen sollen bei mir aufatmen können." (Baldermann, Psalmen
als Gebrauchstexte, S. 79)
Es kommt vor und zwar häufig, dass ein Mensch keinen
Zugang hat zu seiner Seele, zum Sitz seiner Empfindungen und auch nicht
zu Gott. Deshalb finden wir in den Psalmen und in vielen unserer Lieder
immer wieder die ausdrückliche Aufforderung: "Du meine Seele,
singe".
Es versteht sich nicht von selbst, dass wir Menschen Gott loben und ihm
danken. Wir müssen darauf gestoßen werden oder uns auch selber
darauf stoßen, dass wir viel Grund dazu haben. Um Gottes willen
sollen wir das tun, denn Gott freut sich daran, wenn wir ihn loben und
ihm danken. Auch um unserer selbst willen sollen wir das tun. Denn von
Jesus lernen wir, dass ein Mensch erst dann ganz und heil ist, wenn er
Gott loben kann. Um unser eigenes Seelenheil geht es also, wenn wir Gott
loben. Dabei erinnern wir uns an das Gute, das er uns tut. Und das macht
uns froh und zuversichtlich.
Ausdrücken lässt sich das Lob Gottes am besten
durch Gesang. Denn das Singen bringt mehr in uns zum Schwingen als das
Sprechen. Durch das Singen können wir eigene Gemütsregungen
viel mehr zum Klingen bringen. Deshalb ruft das Lied auf: "Du meine
Seele, singe".
Es gibt Situationen, da ist einem nicht nach Singen zumute,
da ist die Kehle wie zugeschnürt, ein dicker Kloß sitzt im
Hals. So geht es vielen Menschen auf dem Friedhof. Bei den meisten Trauerfeiern
wird nicht mehr gesungen, weil die Angehörigen sagen: "Wir können
dann sowieso nicht singen."
Bemerkenswert ist, dass im Hebräischen das Wort für Seele und
Kehle das gleiche ist. Was mir die Kehle verschließt, nimmt mir
den Atem und damit das Leben. Eine lebendige Seele ist der Mensch, weil
Gott ihm seinen Atem einhaucht. Die Seele, so halte ich jetzt weiter fest,
ist Gottes Atem in uns.
Was uns die Luft nimmt, den Atem verschließt, das geht an unsere
Seele, an unser Leben. Singen hilft, die Kehlen zu öffnen, sie kräftig
mit Luft durchzupusten. Aus dem Grund beginnen viele Chorleiter die Proben
und Aufführungen mit Atemübungen. Erst einmal soll der Atem
richtig in Gang gesetzt werden. Denn auf das richtige Atmen kommt es beim
Singen an.
Singen ist also immer ein gutes Mittel gehen alles, was einem die Kehle
zuschnürt und den Atem rauben will.
"Du meine Seele sing, wohlauf und singe schön".
Nun ja, das ist nicht jedem gegeben. Aber jeder kann singen so gut, wie
er eben kann. Übung macht auch hier den Meister. Und das Singen mit
anderen hilft, selber den richtigen Ton zu finden.
Wo die Seele Halt findet
Singen soll die Seele "dem, welchem alle Dinge zu
Dienst und willen stehn". Ist schon das Singen selbst eine Art des
Widerstands gegen Leid, Angst und Schmerz, so erst recht die Hinwendung
zu dem, "welchem alle Dinge zu Dienst und Willen stehn."
Welch ein kühner Satz nach all dem, was Paul Gerhardt mit angesehen
an! Der dreißigjährige Krieg liegt hinter ihm, unvorstellbare
Grausamkeiten und Verwüstungen hat dieser Krieg mit sich gebracht,
Hungersnöte und Pestepidemien. Alles schien Gott vollkommen aus
dem Ruder gelaufen zu sein. Wo war er in all diesem Elend? Warum hat er
den Menschen mit ihrem Hass und ihrer Lust zu Töten nicht Einhalt
geboten?
Alle Dinge sollen ihm zu Dienst und willen stehen? Um das zu glauben,
muss man schon einen starken Glauben haben, einen Dennoch-Glauben, der
trotz allem Leid an Gott festhält. Solch einen Glauben hatte Paul
Gerhardt.
Er sucht und findet Halt an "Jakobs Gott und Heil". Paul Gerhardt
bekennt sich ausdrücklich zu dem Gott, der sich in der Geschichte
seines Volkes bekannt gemacht hat. Es ist der Gott, der gesagt hat: Ich
bin da, ich bin an deiner Seite, wohin du auch gehst. Ich werde mich
immer als dein Gott erweisen.
In der Geschichte Israels hat Gott dies unter Beweis gestellt und sich
als der erwiesen, der sein Volk führt, tröstet, ihm ins Gewissen
redet und immer wieder seine Geschicke zum Guten wendet.
Durch sein Dasein an der Seite seines Volkes Israel hat Gott aller Welt
gezeigt, wer er ist, was wir Menschen von ihm erwarten können und
was er von uns fordert.
Dieses Dasein Gottes in der Geschichte der Völker und in der Lebensgeschichte
eines jeden einzelnen Menschen, das ist der Halt, an dem wir unseren Glauben
festmachen können.
Wer diesen Halt für sich gefunden hat und diesem Gott vertraut, besitzt
damit den größten Schatz, den es geben kann: "Sein Herz
und ganzes Wesen bleibt ewig unbetrübt."
Hier kommt wieder die Seele ins Spiel, die jetzt nur einen anderen Namen
erhält. Dass die Seele unbetrübt bleibt trotz allen Leides,
das ist wieder so ein kühner Satz des Dichters. Wie kann das sein
und was kann er gemeint haben?
Mit kommt noch einmal der Film in den Sinn und zwar die
Szene mit dem schwer kranken alten Mann und dem Arzt auf der Intensivstation.
Der alte Mann atmet schwer. Er fragt den Arzt: "Ist er schon auf
dem Flur?" Mit "er" meint er den Tod. Der Arzt nickt. "Ist
er schon hier im Zimmer?", fragt der Mann weiter. Der Arzt nickt
wieder. Der Mann bleibt gefasst. Draußen auf dem Flur erklärt
der Arzt dem Sohn und seiner Frau, dass die Zeit des Abschieds gekommen
ist. Beide gehen in das Sterbezimmer. Man sieht, wie der Sohn seinem
Vater zärtlich über die Stirn streichelt, bis er gestorben ist.
Das ist sehr traurig. Aber es ist auch so, dass die Seele unbetrübt
bleibt. Denn sie hat sich ganz in Gottes Hand begeben und spürt,
dass sie bei ihm geborgen ist.
Die Seele, so wage ich es jetzt zu sagen, ist das von
Gott in uns, der Kern unserer Lebendigkeit, das von Gott uns eingehauchte
Leben. Das kann uns verloren gehen, wenn wir allzu sehr beschäftigt
sind und allzu wenig an Gott denken, allzu selten unsere eigenen Empfindungen
wahrnehmen. Dann verlieren wir den Kontakt zu unserer Seele. Der Arzt
in dem Film war auf dem Weg dahin. Immer viel beschäftigt, voller
Ehrgeiz, die Karriereleiter höher zu steigen, einem Seitensprung
nie abgeneigt.
Da bremste ihn der Unfall, sein alter Freund Fritz stellte sich ihm in
den Weg und half ihm, seine Seele wiederzufinden.
Damit sind wir wieder bei einem Geheimnis der Psalmen, das ihre hebräische
Ursprache verbirgt:
In seiner Bibelübersetzung verwendet Martin Luther einige Male das
Wort "erquicken": "Er erquicket meine Seele", so
übersetzt er zum Beispiel den Vers 3 in Psalm 23. Das hebräische
Wort, das da steht, bedeutet eigentlich, dass die Seele "wiederkehrt"
oder "wiedergebracht wird".
Das hat der Arzt in dem Film erfahren. Durch die Begegnung mit seinem
alten Freund ist ihm seine Seele wiedergebracht worden. An seinem menschlichen
Umgang mit anderen Menschen zeigte es sich, dass er wieder mit ihr in
Kontakt stand. Da hatte dann auch der alte Freund seine Mission erfüllt
und konnte verschwinden.
Die Seele, die in Verbindung mit ihrem Schöpfer
steht, die kann nichts betrüben. Sie weiß sich gehalten und
geborgen. Und sie weiß, dass diese Verbindung nie enden wird, auch
nicht mit dem Tod. Mit dieser Zuversicht ist der alte Mann in dem Film
seinen letzten Weg gegangen. Mit dieser Zuversicht können auch wir
leben.
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