Was Propheten beobachten
Ich bin immer wieder fasziniert, wenn am Abend im "Wetter"
der "Tagesthemenströmungsfilm" zu sehen ist. Der Film zeigt,
wie die Luft sich in Europa bewegt. Aus den Luftbewegungen schließen
die Forscher, wie sich das Wetter am kommenden Tag entwickeln wird.
Oft wagen sie auch schon Vorhersagen für die nächsten drei Tage.
Ich staune darüber, wie genau in der Regel die Vorhersagen übereinstimmen
mit dem Wetter, das sich dann tatsächlich am nächsten Tag einstellt.
Manchmal nennt man die Männer und Frauen, die uns den kommenden Tag
erklären, auch Wetterpropheten. Aus den vielen Daten, die sie erheben,
ziehen sie ihre Schlüsse. Doch ihre genauen Beobachtungen von dem,
was gestern und heute war, können sie vorhersagen, was morgen und
übermorgen sein wird.
Etwas Ähnliches tun Propheten, deren Worte uns in der Bibel überliefert
sich. Sie haben auch bestimmte Himmelsströmungen genau beobachtet
und wahrgenommen. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich auf das, was Gott tut.
Aus ihren Forschungen wissen sie: So und so hat Gott sich bisher verhalten.
Daraus ziehen sie den Schluss: So und so wird er sich künftig verhalten.
Erfahrungen, die frühere Generationen mit Gott gemacht haben, rechnen
Propheten hoch zu Ansagen für die Zukunft: Dies und jenes haben wir
von Gott zu erwarten.
Wie bei der Wettervorhersage spielen bei der Ankündigung von künftigen
Geschehnissen viele verschiedene Daten eine Rolle. Propheten erforschen
das Tun und den Willen Gottes. Und sie nehmen das Verhalten der Menschen
wahr. Sie schauen sich genau die Bedingungen an, unter denen Menschen
zusammen leben. Das Tun Gottes und das Tun der Menschen bringen sie
zusammen und ziehen daraus Schlussfolgerungen für die Zukunft.
Ein Sprichwort, das nicht mehr gelten soll
Einer der biblischen Propheten ist Hesekiel. Die Rede des Propheten,
mit der wir es heute zu tun haben, beginnt mit einem Sprichwort: "Die
Väter essen saure Trauben gegessen, und den Kindern werden die Zähne
davon stumpf."
Das Sprichwort will sagen: Söhne und Töchter büßen
für Fehler und Schuld der Eltern. Dem widerspricht der Prophet im
Namen Gottes: "Dieses Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen".
Bei der Beobachtung von Gottes Tun hat Hesekiel erkannt, dass Gott jeden
Menschen als einzelne Person ansieht. Niemand soll büßen für
das, was seine Vorfahren verkehrt gemacht haben. "Der Sohn soll
nicht die Schuld des Vaters tragen." (V. 20) Vielmehr beurteilt Gott
jede und jeden nach der eigenen Lebensweise. (V.30) Jeder Mensch ist für
sein Tun und Lassen selbst verantwortlich.
Für den Propheten ist eins ganz klar: Gott will, dass die Menschen
leben. Achtzehn mal begegnet das Wort "Leben" allein in diesem
einen Kapitel, mit dem wir es jetzt zu tun haben. Es geht um "Leben",
das den Namen auch verdient hat: Leben mit Sinn, mit Hoffnung, mit einem
Ziel.
Dies ist den Israeliten verloren gegangen. Sie sind aus Jerusalem weggeführt
worden. Nun befinden sie sich fern der Heimat in einem fremden Land, in
Babylon. ´Das ist kein Leben hier`, so sagen sie. ´Das hat
keine Zukunft, das hat keinen Sinn, es ist einfach nur schrecklich.`
So bedauern sie sich selbst und reden sich obendrein noch ein: ´Das
ist die Strafe für die Sünden unserer Väter. Sie haben
nicht auf Gott gehört. Sie sind ihre eigenen gottlosen Wege gegangen.
Nun bekommen wir die Quittung. Wir müssen büßen für
das, was unsere Eltern verkehrt gemacht haben.`
Was bei uns nicht mehr sein darf
Dieses Denken ist uns nicht fremd. Zur Zeit häufen sich die Berichte
über die wachsende Armut in unserem Land. Ein besonderer Skandal
ist: Die Armut wird von den Eltern an die Kinder weiter gereicht. Kinder
aus schlecht gestellten Elternhäusern haben selber schlechte Lebenschancen.
Je geringer die Bildung der Eltern und je schlechter ihr Sozialverhalten,
desto
schlechter werden sich auch die Kinder verhalten und in der Schule vorankommen.
Alle Studien, die zum Thema Bildung in den letzten Jahren veröffentlicht
wurden, zeigen das gleiche Ergebnis: In unserem Land werden die Lebenschancen
eines Kindes mit seiner Geburt schon festgelegt. Kinder aus gut gebildeten
Elternhäuser haben weit größere Chancen als Kinder von
Eltern, die selbst die Schule nicht geschafft haben.
Man kann dazu sagen: "Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm."
Oder wie es die Israeliten taten: "Die Eltern essen saure Trauben,
den Kindern werden die Zähne stumpf." Leider ist es in vielen
Fällen so. Leider lässt unsere Gesellschaft es zu, dass dies
die Regel ist. Deutschland liegt, was die frühkindliche Betreuung
und Förderung angeht, im internationalen Vergleich auf dem letzten
Platz. Unsere Gesellschaft, unsere Politik, handelt so, als ob das Sprichwort
ein Naturgesetz wäre: "Wenn Eltern saure Traube essen, bekommen
die Kinder stumpfe Zähne."
Der Prophet wendet sich dagegen, das Sprichwort wie ein Naturgesetz anzusehen.
Er sagt im Auftrag Gottes: "Dies soll nicht mehr unter euch umgehen,
es soll keine Geltung mehr haben". Was Hesekiel sagt, ist neu, geradezu
revolutionär. Zum ersten Mal werden die Israeliten nicht als Volk
angesprochen, sondern als einzelne Personen. "Jede Seele gehört
mir", sagt Gott durch den Mund des Propheten. Jede Seele ist für
ihr Tun und Lassen selbst verantwortlich.
Auf uns heute bezogen können wir noch dazu setzen: Jeder einzelne
Mensch darf nicht durch die Situation und das Verhalten seiner Eltern
festgelegt werden auf einen bestimmten eigenen Lebensweg. Jedes Kind muss
die Chance haben, seine eigenen Fähigkeiten zu entwickeln.
Was dazu notwendig wäre, ist bekannt. Es gäbe Gegenmaßnahmen
gegen die wachsende Kinderarmut. Kleine Klassen, in denen Lehrerinnen
und Lehrer sich um einzelne Schülerinnen und Schüler kümmern
können. Gemeinsamer Unterricht bis zu Klasse sechs und erst dann
die Aufteilung nach bestimmten Begabungen. Genügend psychologische
und sozialpädagogische Fachkräfte, die sich der verhaltensauffälligen
Kinder annehmen können. Schulische Unterstützung für Kinder,
die Hilfe beim Lernen brauchen.
Das sind nur ein paar Stichworte. Fachleute haben längst die notwendigen
Maßnahmen aufgelistet. Das Problem ist nur: All diese Maßnahmen
kosten Geld. Und das wollen die, die in unserem Land das Sagen haben,
nicht herausrücken. Sie weigern sich, in die Kinder und Jugendlichen
und damit in unsere Zukunft zu investieren. Statt dessen sehen sie nur
zu, wie sie selber immer reicher werden. ´Alles Geld denen, die
ohnehin schon viel mehr als genug haben`, dies ist seit dreißig
Jahren immer mehr zur obersten Richtschnur unserer Politik geworden.
Es ist eine rückwärtsgewandte Politik, die genau die Gesetzmäßigkeit
zur Folge hat, die Gott aufheben will: Von den sauren Trauben, die die
Eltern essen, werden den Kindern die Zähne stumpf. Ohne das Bild
gesprochen: Fehler der Gegenwart setzen sich in die Zukunft hinein fort.
Der Prophet weiß aus den Beobachtungen des göttlichen Willens,
dass Gott diese verhängnisvolle Gesetzmäßigkeit unterbrechen
will. Kinder sollen nicht büßen für die Fehler ihrer Eltern.
Wie Wetterforscher die Strömungen der Luft beobachten, so untersuchen
Meinungsforscher die Stimmungen der Menschen. In Amerika sind acht von
zehn Menschen für einen radikalen Wechsel. Sie wollen eine andere,
neue Politik. Eine Politk, die aufhört, Kriege in aller Welt zu führen
und statt dessen der Armut im eigenen Land den Kampf ansagt. Und es gibt
einen, der für diesen Wechsel eintritt. Er sagt: Ja, wir können
das und wir schaffen das. An seinem Rednerpult ist ein großes Schild
befestigt mit der Aufschrift: "Wechsel - wir können daran glauben."
Er redet so, dass die Menschen ihm glauben. Vor allem die jungen Menschen
lassen sich von seiner Hoffnung anstecken.
Auch in unserem Land werden die Stimmen immer mehr und immer lauter, die
einen Wechsel fordern. Ich stelle mir einen Tagesthemenströmungsfilm
vor, der die Stimmung in unserem Land abbildet. Lange Pfeile sehe ich
auf diesem Film, die in eine bestimmte Richtung zielen: Mehr Gerechtigkeit.
Ich sehe ein kräftiges Tief über der Selbstbedienung in unserem
Land, die Konzernbosse, Spekulanten, Aktionäre und Politiker praktizieren.
Dieser ungehemmte Kapitalismus kann und darf uns so nicht weiter beherrschen.
Darüber sind sich vermutlich auch bei uns acht von zehn Bürgerinnen
und Bürger einig. Nur ist bei uns leider weit und breit niemand zu
sehen, der diese Stimmung aufnimmt und sich stark macht für eine
andere, gerechtere Politik.
Wozu Gott die Menschen ermutigen will
Ändern soll sich aber nicht nur die politische Großwettelage,
sondern auch die Stimmung in den einzelnen Menschen. Darauf zielen die
Worte des Propheten. Um deutlich zu machen, was er meint, blende ich
noch einmal zurück nach Babylon. Unter den Weggeführten kam
die Haltung auf: ´Wir büßen hier für eigene Fehler
und für die Sünden unserer Väter. Dieses Leben hier in
der Fremde ist völlig sinnlos, es hat keine Zukunft.` Mit solch
depressiven Gedanken schleppten sie sich durch die Tage.
Ähnlich geht es vielen Menschen bei uns. Besonders unter jungen Leuten
mit schlechten Zukunftsaussichten stellt sich oft die Haltung ein: ´Wir
haben keine Chance, also strengen wir uns gar nicht erst an, es bringt
ja doch nichts.`
Mit einer solchen Haltung geben Menschen ihr eigenes Leben aus der Hand.
Oft nehmen sie auch gar nicht mehr wahr, wenn andere Menschen, Lehrerinnen
und Lehrer zum Beispiel, sich um sie bemühen. Sie glauben, alle Welt
ist gegen sie, und wehren sich auch gegen freundliche Hilfsangebote.
Diese Haltung ist auch bei gut gestellten Menschen anzutreffen. Mir ist
eine ungefähr fünfzigjährige Frau vor Augen. Sie ist sehr
intelligent, erfolgreich in ihrem Beruf, bewohnt mit ihrer Familie ein
schönes Haus. Trotz allem fühlt sie sich vom Leben benachteiligt.
Sie hadert immer noch mit dem, was ihr die Eltern angetan haben. Sie
hat es schwer gehabt zu Hause. Die Eltern haben sie mit eigenen Problemen
belastet, haben ihr Liebe und Anerkennung vorenthalten. Das alles ist
keine Frage.
Trotzdem müssten die Fehler der Eltern sie nicht belasten bis an
ihr eigenes Lebensende. Wenn wir die Worte des Propheten auf ein Schicksal
wie dieses beziehen, dann würden sie ungefähr so lauten:
Dass deine Zähne stumpft werden von den sauren Trauben, die deine
Eltern gegessen haben, das soll nicht sein. Die Fehler deiner Eltern sollen
dich nicht mehr belasten. Löse dich davon. Löse dich von der
bösen Vergangenheit. Wende dich der Gegenwart zu und der Zukunft.
Du sollst leben, frei und unbeschwert von dem, was andere dir angetan
haben.
Etwas Ähnliches wäre auch den Menschen zu sagen, die glauben,
keine Chance zu haben und deshalb sich gar nicht erst mehr anstrengen.
Statt Resignation und Depression verbreitet der Prophet Mut zum Widerstand
nach dem Motto: ´Du hast keine Chance, als nutze sie.` Finde dich
nicht ab mit der schlechten Situation, in die du hineingeboren wurdest.
Du hast ein Recht, am Leben der Gesellschaft teilzuhaben und deine Fähigkeiten
zu entwickeln und einzubringen.
Sicher braucht ein Mensch, der keine Hoffnung mehr hat oder der Schlimmes
erlebt und erlitten hat, liebevolle und fachkundige Begleitung. Sicher
dauert es seine Zeit um, über die Hoffnungslosigkeit und Depression
hinweg zu kommen. Aber irgendwann soll der Tag kommen, wo ein solcher
Mensch sagen kann: Ich lasse die Vergangenheit ruhen. Ändern kann
ich sie ja nicht mehr. Ändern kann ich nur mein eigenes Leben in
der Gegenwart. Und das will ich leben.
Der Prophet sieht am Himmel eine starke Strömung, hinter der Gott
selbst steht. Der letzten Vers des Kapitels nennt noch einmal klar und
deutlich die Richtung, in die dies Himmelsströmung zielt: "Ich
habe kein Gefallen am Tod der Sterbenden. Kehrt um, so werdet ihr leben",
spricht Gott. Zum Leben will Gott befreien und ermutigen.
Noch einmal zurück zum Anfang, zum Tagesthemenströmungsfilm:
Der Verlauf der kleinen Pfeile ändert sich jeden Tag. Die Himmelsströmung,
die von Gott ausgeht, ändert sich nicht. Gott will, dass wir leben
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