Wie konnte das damals passieren? So fragt man sich immer wieder, wenn
man an die schrecklichen Ereignisse von damals zurückdenkt.
Lange Jahre konnten die Menschen in unserem Land über diese Frage
gar nicht nachdenken. Sie löste sofort heftige Abwehr aus. Wer die
Zeit als Erwachsener oder Heranwachsender miterlebt hatte, fühlte
sich schuldig. Schuld einzugestehen, ist eine enorme Kränkung, der
man mit allen Mitteln auszuweichen versucht.
"Wir haben davon nichts gewusst." Sehr oft bekam man diesen
Satz zu hören, wenn man Menschen, die damals gelebt haben, nach den
Verbrechen der Nazis fragte. Eine andere häufig gehörte Antwort
war die: "Wir mussten ja mitmachen. Wer nicht mitmachte, wurde selber
umgebracht." Meistens wurden die Gefragten gleich sehr aggressiv.
Deshalb ließ man das Thema lieber ruhen. So hat sich Jahrzehnte
lang ein Schleier des Schweigens über die Geschehnisse von damals
gelegt.
Aber die dunklen Schatten der Vergangenheit holen uns immer wieder ein.
Die Schuld, die das deutsche Volk in den Jahren 1933 bis 1945 auf sich
geladen hat, ist riesengroß. An der schweren Last dieser Schuld
tragen wir Deutschen bis heute. Denn längst ist noch nicht alles
aufgearbeitet, was Menschen damals verbrochen haben. Man kann nicht einfach
einen Schlussstrich darunter ziehen, wie manche das fordern. Das jahrzehntelange
Schweigen hat alles nur schlimmer gemacht. Jede Frage, die nicht gestellt
wurde, hat Menschen tiefer in die Gemeinschaft der Schuld verstrickt.
Der Schriftsteller Ralph Giordano spricht deshalb von der "zweiten
Schuld", die wir Deutsche durch das Leugnen der ersten Schuld auf
uns geladen haben.
Aus dieser Schuld-Verstrickung können wir uns nur befreien, wenn
schuldhaftes Verhalten konkret benannt wird. Nicht, um irgendjemanden
schuldig zu sprechen, sondern um Lehren daraus zu ziehen für uns
heute. Denn erst bewusstes Erinnern macht uns fähig, uns der Gegenwart
zu stellen. Vergessen und Verschweigen verlängert die Schuldgeschichte.
Die Erinnerung aber ist das Geheimnis der Befreiung und die Quelle der
Erlösung.
Nüchtern und wachsam zu sein, dazu ermuntert der für heute vorgesehene
Predigttext. Wir sind "Menschen, die dem Licht und dem Tag gehören",
so heißt es das, Menschen also, die alles bei Licht besehen können.
Wenn wir das Gestern erhellen und bei Licht betrachten, klärt sich
für uns das Heute auf, verstehen wir mehr und besser unsere heutige
Situation und was heute von uns gefordert sein könnte.
Schauen wir also noch einmal genauer hin, was damals geschehen ist.
Die Gewalt gegen Juden in der Nacht vom 9. auf den 10. November war kein
plötzlicher Ausbruch des Volkszorn, wie es die nationalsozialistische
Propaganda darstellte. Sie war von langer Hand vorbereitet. Unmittelbar
nach der Machtübernahme hatten die Nazis begonnen, gegen die Juden
zu hetzen und sie aus dem öffentlichen Leben auszuschließen.
Am 1. April 1933 fand die erste groß angelegte Aktion gegen die
Juden statt.
Jede Ortsgruppe der NSDAP hatte ein Aktionskomitee gebildet zur praktischen
Durchführung des Boykotts jüdischer Geschäfte, jüdischer
Ärzte und jüdischer Rechtsanwälte. Die Komitees erhielten
die Anweisung, durch Propaganda und Aufklärung den Boykott bis in
das kleinste Bauerndorf zu voranzutreiben. Das ganze Volk wurde auf den
Grundsatz eingeschworen: "Kein Deutscher kauft noch bei einem Juden."
"Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!" Plakate mit dieser
Aufschrift klebten die Aktionskomitees überall im Land an jüdische
Geschäfte. Punkt 10 Uhr vormittags schlugen sie los. Jüdische
Geschäftsleute, Ärzte, Apotheker, Rechtsanwälte mussten
ihren Beruf aufgeben. Viele von ihnen flohen ins Ausland.
Die Nazi-Propaganda ließ weitere Hetzkampagnen folgen. Anfang 1937
forderte der Reichsführer der SSS, Heinrich Himmler, erstmals öffentlich
die "Entjudung Deutschlands", wie das Nazivokabular lautete.
Dieses Ziel sei am besten zu erreichen durch Mobilisierung des Volkszorns.
Viele nichtjüdische Deutschen machten bereitwillig mit. Auch hier
in Wanheim. Heinrich Hildebrand hat das Schicksal der jüdischen Familie
Jessel festgehalten. Nachbarn und Bekannte grüßten sie nicht
mehr auf der Straße. Schon 1935 mussten sie ihr Geschäft aufgeben,
weil die Angriffe gegen sie überhand genommen hatten.
Es war nicht nur die Angst vor eigenen Nachteilen, die viele zum Mitmachen
trieb. Die Nazi-Regierung, die selber vollkommen rücksichts- und
gewissenlos handelte, setzte in der Bevölkerung die niedrigsten Beweggründe
frei. Jeder konnte seinen Aggressionen freien Lauf lassen, ohne irgendwelche
Nachteile dafür befürchten zu müssen. "Man wusste,
dass man bei Hitler nie wegen zu großem Radikalismus schlecht angesehen
werden konnte, nur wegen zu großer Weichheit," sagte ein Zeitzeuge.
Mitgefühl, Anteilnahme, Hilfe gegenüber Schwächeren, diese
urchristlichen Werte und Verhaltensweisen galten im Nazireich als undeutsch.
"Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und flink wie ein Weisel"
sollte ein "deutscher Junge" sein. Für weiche, mitfühlende
Menschen hatte die Nazipropaganda nur Hohn und Spott übrig.
Viele im deutschen Volk nahmen darüber hinaus die Gelegenheit wahr,
sich am Eigentum der Juden zu bereichern. Jüdische Unternehmer verkauften
ihre Firmen weit unter Wert. Warenhauskonzerne wie Horten, Banken wie
die Deutsche und die Dresdner Bank profitierten davon. Das Vermögen
der Juden, geschätzte dreizehn Milliarden Reichsmark kassierte die
Reichsregierung ein, um damit die riesigen Rüstungsausgaben zu bezahlen.
Möbel, Geschirr, Kinderspielzeug, Wäsche, Bilder aus jüdischen
Wohnungen wurden weit unter Wert versteigert. Viele Deutsche haben dabei
ein Schnäppchen gemacht.
Dann kam der 9. November 1938. Am Morgen dieses Tages starb in Paris ein
Mitglied der Deutschen Botschaft an den Folgen eines Attentats. Ein siebzehnjähriger
polnischer Jude hatten den Beamten in seinem Dienstzimmer mit mehreren
Schüssen schwer verletzt. Der Beamte starb. Für Hitler war dies
die Gelegenheit. Sein Propagandaminister hielt um 22 Uhr vor SA-Führern,
die im Alten Rathaus in München versammelt waren, eine Hetzrede.
Darin machte er die Juden für den Tod des Botschaftsangehörigen
verantwortlich. Er lobte die angeblich spontanen judenfeindlichen Aktionen
im ganzen Reich, bei denen auch Synagogen in Brand gesetzt worden seien.
Die Partei, solle nicht als Organisator antijüdischer Aktionen in
Erscheinung treten. Sie solle diese aber dort, wo sie entstünden,
auch nicht behindern. Die anwesenden Parteigenossen verstanden dies als
unmissverständliche Aufforderung zum organisierten Handeln gegen
jüdische Häuser, Läden und Synagogen. Sie gaben mit Telegrammen
und Fernschreiben Befehle an alle Dienststellen im ganzen Reich weiter,
in denen es hieß:
Sämtliche jüdische Geschäfte sind sofort von SA-Männern
in Uniform zu zerstören. Nach der Zerstörung hat eine Wache
aufzuziehen, die dafür zu sorgen hat, dass keinerlei Wertgegenstände
entwendet werden. Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken.
Die Feuerwehr darf nicht eingreifen.
Die Polizei im ganzen Reich bekam den Befehl, zwanzig bis dreißigtausend
Juden festzunehmen. Betroffen davon waren vor allem vermögende Juden.
Sie kamen nicht mehr in ihre Häuser zurück, sondern wurden in
die Konzentrationslager abtransportiert.
In der Kirche gab es einen, der klar und deutlich gegen die Judenverfolgung
Stellung genommen hat, Dietrich Bonhoeffer. Schon im April 1933 veröffentlichte
er einen Aufsatz unter dem Thema: "Die Kirche vor der Judenfrage".
Darin beschrieb er die dreifache Aufgabe der Kirche dem Staat gegenüber:
Sie soll den Staat nach der Rechtmäßigkeit seines Handelns
fragen. Sie soll sich zweitens um die Opfer des staatlichen Unrechts kümmern.
Bonhoeffer gebraucht dafür das Bild: Kirche soll denen helfen, die
unter die Räder kommen, die "Opfer unter dem Rad verbinden".
Die dritte und letzte Möglichkeit sieht Bonhoeffer darin, dem Rad
selbst in die Speichen zu fallen, also aktiv Widerstand gegen staatliches
Unrechtshandeln zu leisten. Die ersten beiden Aufgaben sah Bonhoeffer
im April 1933 schon als "verpflichtende Forderungen der Stunde".
Er stand damals vollkommen allein in der Kirche und in der ganzen Gesellschaft.
Er blieb allein auch später, als er sich an Versuchen beteiligte,
dem "Rad in die Speichen zu fallen".
Auch nach dem Krieg hat sich die Kirche lange Zeit schwer damit getan,
Bonhoeffer ein ehrendes Andenken zu erweisen. Vermutlich weil sein Beispiel
Schuldgefühle in vielen Kirchenleuten weckte. Er hat gezeigt, dass
man schon sehr deutlich sehen und wissen konnte, was die Nazis taten.
Er hat gezeigt, dass die Kirche von ihrem Glauben her dazu auch etwas
hätte sagen können, dass sie etwas hätte sagen müssen.
Es gab auch in der Nacht vom 9. auf den 10. November Menschen, die sich
schützend vor die Juden gestellt und damit gezeigt haben, dass man
nicht alles mitmachen musste. In Berlin-Mitte zum Beispiel rettete der
Vorsteher eines Polizeireviers die Synagoge in der Oranienburger Straße
vor der Zerstörung. Er verwies darauf, dass dieses Gebäude unter
Denkmalschutz stand, verjagte mit vorgehaltener Dienstpistole die Brandstifter
und holte die Feuerwehr, die den Brand löschte. Außer einer
Rüge seines Vorgesetzten geschah ihm nichts.
Wir sind Menschen, die dem Tag und dem Licht gehören. Deshalb wollen
wir wach und nüchtern sein. Das wollen wir sein im Blick auf die
Vergangenheit, wir wollen sie nüchtern betrachten, ohne dabei etwas
schön zu reden. Es war eine Verbrecherbande, die unser Land regiert
hat, und viele, viele haben sich davon selbst zu schlimmen Taten anstiften
lassen. Wenn man dies alles nüchtern betrachtet, überkommt einen
auch heute noch Scham, dass dieses Volk der Dichter und Denker, der Künstler
und Musiker so tief sinken konnte.
Nüchtern und wachsam, das sollen wir Christen auch sein im Blick
auf die Gegenwart. Auch heute gibt es Menschen, die unsere Einmischung
brauchen, Menschen, für die wir den Mund aufmachen müssen, weil
sie selber nicht für sich eintreten können.
"Wir wollen auf den Glauben und die Liebe bauen
und darauf hoffen, dass alles gut wird."
Kraft und Mut, den Mund aufzumachen für Menschen, die unsere Einmischung
brauchen, kommen aus dem Glauben. Jesus hat uns vorgelebt, dass wir vor
nichts und niemandem Angst haben müssen. Und er hat uns die Hoffnung
gegeben, dass letztlich Recht und Gerechtigkeit die Oberhand behalten
werden.
Solange es Menschen gibt, wird es immer Bosheit, Niedertracht, Gier und
Unrecht geben. Wir können die Welt und die Menschen nicht verändern.
Aber es wird immer die Möglichkeit geben, Verhältnisse zum Besseren
hin zu verändern. Wir Christen sollen mitwirken an der Bekämpfung
des Unrechts und am Aufbau einer gerechteren, friedlicheren Welt. Dazu
ermuntert Paulus und schließt seinen Brief mit diesem Segenswunsch:
"Der Gott des Friedens
heilige euch durch und durch
und bewahre euren Geist
samt Seele und Leib unversehrt und untadelig
für die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus.
Die Gnade unseres Herrn sei mit euch."
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