"So wie Knospen durch Wachstum neue Knospen erzeugen und diese
wieder, wenn sie lebenskräftig sind, ausschlagen, zu neuen Zweigen
werden und schwächere Zweige überwinden, so, glaube ich, geschieht
es seit Generationen am großen Lebensbaum, der die Erdrinde mit
seinen toten, dahingesunkenen Ästen erfüllt und die Erdoberfläche
mit seinen ewig neu sich verästelnden schönen Gezweige belebt."
Mit diesen Worten beendete Charles Darwin sein bahnbrechendes Werk von
der "Entstehung der Arten", das im Jahr 1859 herauskam.
"Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl
oder Die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe ums Dasein",
so heißt der vollständige Titel des Werkes, an dem Darwin zwanzig
Jahre lang geforscht und gearbeitet hatte.
Vor 200 Jahren, am 12. Februar 1809, wurde er im englischen Shrewsbury
geboren. Er gilt als einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler aller
Zeiten. Darwin gehört zu den wenigen Naturforschern, die das Weltbild
des Menschen in seinen Grundfesten verändert haben, ähnlich
wie Kopernikus und Kepler, Newton oder Einstein.
Der Astronom Nikolaus Kopernikus erkannte Anfang des sechzehnten Jahrhunderts,
dass nicht die Erde Zentrum des Universums ist, sondern wie die anderen
Planeten um die Sonne kreist. Darwin rückte mit seiner Evolutionstheorie
die Stellung des Menschen zurecht, entriss ihm die Krone der Schöpfung
und stellte ihn auf eine Ebene mit den übrigen Lebewesen. Alles Leben
auf der Erde habe sich im Laufe der Jahrmillionen ständig verändert
und an die Umgebung angepasst - und daraus sei irgendwann auch der Mensch
hervorgegangen. Mit dieser Erkenntnis revolutionierte Darwin das damalige
Weltbild. Sigmund Freud bescheinigte ihm, dass er damit für eine
der großen Kränkungen der Menschheit gesorgt hat.
Wie die Entdeckung, dass die Erde nicht Mittelpunkt der Welt ist, so
hat auch seine Entdeckung Ablehnung und Widerstand hervorgerufen. In
Amerika kämpfen zahlreiche Menschen bis heute dagegen an.
Dort gibt es eine mächtige Kirche, die sich "Antworten der
Schöpfungsgeschichte" nennt. Ihr tägliches Radioprogramm
wird über neuntausend Stationen in allen Staaten Amerikas ausgestrahlt.
Das Zentrum dieser Kirche liegt im US-Staat Kentucky, an der Grenze zu
Ohio. Dort haben die Fundamentalisten ein Museum aufgebaut, fünftausendfünfhundert
Quadratmeter groß. Gleich am Eingang empfängt ein Dinosaurier
die Besucher. Kurz danach trifft man auf den zweiten Dino mit Adam und
Eva im Paradies.
Die "Kreatonisten", wie man diese Gegner der Wissenschaft nennt,
nehmen den Schöpfungsbericht am Anfang der Bibel wörtlich. Die
Erde ist für sie demnach sechstauend Jahre alt. Gott schuf sie innerhalb
von sechs Tagen. Nach Psalm neunzig sind tausend Jahre für Gott,
was für uns Menschen ein Tag ist:
"Tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist,
und wie eine Nachtwache".
So kommen die Kreationisten auf die Zahl sechstausend. Am sechsten Tag,
also vor tausend Jahren erschienen Tiere und Menschen alle zur gleichen
Zeit. Deshalb sieht man in dem Museum die Dinos mit den ersten Menschen
im Paradies hocken. "Wir haben den Darwinisten die Dinosaurier weggenommen",
frohlockt ein Sprecher dieser Sekte.
Wissenschaftlern, die nachweisen, dass die Dinos lange vor den Menschen
auf der Erde lebten, glauben die Kreationisten einfach nicht. Sie finden
damit viel Zuspruch in Amerika.
In dieser Woche geht es auf den Höhepunkt der fünften Jahreszeit
zu. Deshalb sei der Einwurf eines Kabarettisten an dieser Stelle erlaubt.
Dieter Nuhr schreibt über Menschen, die alles, was in der Bibel steht,
wörtlich nehmen:
"Menschen wollen glauben. Im Umfeld einer Glaubensgemeinschaft kann
man sogar völlig Unlogisches als folgerichtig begreifen. Nehmen wir
die großen monotheistischen Weltreligionen. Sie alle glauben an
denselben Schöpfergott, der die Welt in sechs Tagen erschuf, ein
Zeitraum, der auch extrem leichtgläubigen Menschen knapp erscheinen
sollte. Ich habe da mit Handwerkern andere Erfahrungen gemacht.
Das Zusammenschrauben von Galaxienhaufen ist eine mühselige Aufgabe.
Man rutscht als Schöpfer einmal mit dem Akkuschrauber ab, und schon
hat man ein schlimmes Schwarzes Loch im frischlackierten Sternhaufen,
einen Gravitationsmoloch, der in den folgenden Jahrmilliarden das mühselig
austarierte Sonnenhäufchen langsam, aber sicher in sich reinsaugt.
Ein Universum ist ein gewaltiges vernetztes Etwas. Wer einmal ein eigenes
Computer-Netzwerk eingerichtet hat, weiß, dass die Vernetzung eines
Universums nicht unter zwei Wochen zu. Sechs Tage halte ich insofern
für gestrunzt.
Unser Universum ist jetzt knapp 14 Milliarden Jahre alt - und im Grunde
immer noch nicht fertig. Reklamationen sind nicht möglich, da der
Schöpfer weder eine Firmenadresse hinterlassen hat noch eine Homepage
unterhält. Und eigentlich weiß niemand, ob er überhaupt
noch da ist." (Wer´s glaubt, wird selig, S. 26-27)
Auch über die Frage, warum viele Menschen Erkenntnisse der Wissenschaft
einfach an sich abprallen lassen, hat Nuhr sich Gedanken gemacht:
"Dem Gläubigen sind Fakten nur Beweis des Zweifels. Und da
der Zweifel der größte Feind des Glaubens ist, muss der Gläubige
Fakten vermeiden. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Man kann
das Verrückteste glauben, wenn man jeden Zweifel zur Sünde erklärt".
(S.25)
Genau das tun die Kreationisten in Amerika. Gegen den Glauben gibt es
keine Argumente, das ist ihr Trumpf. Sie bestehen darauf, dass die Menschen
Gottes Wort wörtlich nehmen.
Wer so argumentiert, entzieht sich jeder ernsthaften Auseinandersetzung.
Die Belege dafür, dass Evolution stattgefunden hat und dass die natürliche
Auslese dabei eine treibende Kraft ist, stellt heute kein ernst zunehmender
Wissenschaftler in Abrede; ebenso wenig wie die Ansicht, dass die Erde
ein kugelförmiger Körper ist, der um die Sonne kreist. Ähnlich
wie dieses Weltbild und die Beschreibung der Planetenbahnen sind Darwins
Vorstellungen einer Evolution eine wissenschaftliche Theorie und keinesfalls
ein Dogma oder eine Lehre. Deshalb ist schon unsinnig, von "Darwinismus"
zu sprechen. Wer Darwins Erkenntnisse ernstnimmt, und das tut auch unsere
Evangelische Kirche in Deutschland, macht sich damit nicht zum Anhänger
einer Religion oder Ideologie, sondern hat einfach Lust, tiefer in die
Geheimnisse der Schöpfung einzudringen.
Darwin schreibt selbst am Ende seines Werkes: "Es ist wahrlich etwas
Erhabenes um die Auffassung, dass der Schöpfer den Keim alles Lebens,
das uns umgibt, nur wenigen oder gar nur einer einzigen Form eingehaucht
hat und dass aus einem so schlichten Anfang eine unendliche Zahl der
schönsten und wunderbarsten Formen entstand und noch weiter entsteht."
Was Leute, die es sich mit dem Glauben einfach machen, auf die Palme treibt,
ist Darwins Einsicht, dass
nicht jede Art für sich und unveränderlich von Gott geschaffen
wurde. Die Natur kommt für ihn ohne einen Handwerker im Himmel aus,
der dort die einzelnen Organismen konstruiert.
Es sind fünf Beobachtungen und drei Schlussfolgerungen, die den
Kern von Darwins Entdeckung ausmachen. Er ging erstens von der Überlegung
aus, dass sich Lebewesen unbegrenzt fortpflanzen, jede Art also mehr Nachkommen
produziert, als zum Überleben notwendig sind. Dagegen sind aber zweitens
die Ressourcen begrenzt. Drittens gibt es bei allen Arten eine Fülle
von Abweichungen. Viertens entsteht diese Unterschiedlichkeit als Ergebnis
der Fortpflanzung. Und mit Blick auf die allgegenwärtige Verschiedenheit
schloss Darwin fünftens, dass jedes Individuum einmalig und in der
Fortpflanzung unterschiedlich erfolgreich ist.
Darum - so Fazit Nummer eins - stehen die Individuen einer Art miteinander
im Wettbewerb. Jene Individuen, die gut an die jeweilige Umwelt angepasst
sind, haben größere Chancen zu überleben und sich fortzupflanzen.
Sie geben dabei erbliche Merkmale an die nächste Generation weiter,
so Fazit Nummer zwei. Der Effekt ist - Fazit drei - "Abstammung mit
Veränderung". Anders ausgedrückt: Da die natürliche
Auslese die am besten Angepassten fördert, kommt es über viele
Generationen hinweg zur Veränderung und Entstehung der Arten.
Darwin argumentierte, dass ähnlich wie bei der Wahl des Züchters
auch in der Natur eine Auslese herrsche. Dank dieser "natürlichen
Zuchtwahl" seien es kleinste Unterschiede, die darüber bestimmten,
wer überlebt und wer untergeht. Dank sich ständig verändernder
natürlicher Bedingungen hätten stets jene Arten die größte
Chance zu überleben, die am besten an die jeweils vorherrschenden
Bedingungen angepasst seien. Zugleich geben sie ihre vorteilhaften Merkmale
an die folgenden Generationen weiter, mit dem Ergebnis, dass durch die
natürliche Auslese neue Arten entstehen. Eine im Kern einfache Theorie.
Diese Theorie steht keinesfalls im Gegensatz zum biblischen Schöpfungsglauben.
Der berühmte Satz "Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde"
behauptet, dass alles seinen Anfang und seinen Ursprung in Gott hat. Der
erste Schöpfungsbericht ist im Grunde ein einziges Loblied auf Gott,
den Schöpfer. Er will keine wissenschaftliche Theorie aufstellen
über die Entstehung des ganzen Kosmos, sondern Gott für seine
wunderbare Schöpfung danken. Der Schöpfungsbericht lobt Gott
für sein mächtiges und schöpferisches Wort, mit dem er
alles hat entstehen lassen. Voller Staunen und Dankbarkeit stellt der
Bericht fest, dass der Mensch eine besondere Stellung in der Schöpfung
hat: er ist "Gottes Ebenbild".
Dies ist nach reformatorischer Auffassung der Kern des Schöpfungsglaubens:
Wir Menschen sind Gottes Geschöpfe und Ebenbilder, ihm verdanken
wir unser Leben.
Die Schilderung der biblischen Geschichte, wonach der Mensch am Ende
eines langen Geschehens die Erde betritt, deckt sich übrigens mit
heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Danach gibt es seit Milliarden
von Jahren Leben auf der Erde. Dagegen ist unsere eigene direkte Ahnenlinie
nur knapp zwei Millionen Jahre alt. Wir sind Spätankömmlinge
unter den irdischen Bewohnern.
Was die biblische Schöpfungsgeschichte sagen will, hat Jörg
Zink auf eindringliche Weise nacherzählt:
"Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.
Nichts war vor ihm, auch nicht das Chaos. Im Anfang war die Welt, die
er schuf, wüst und leer, über der unendlichen Wassertiefe war
Finsternis, und der Geist schwebte über dem Wasser.
Da sprach Gott: Es werde Licht. Es werde Klarheit. Es werde eine Welt,
die keine Kluft kennt, keine finsteren Geheimnisse, keine Abgründe
und keine in ihnen hausenden Mächte. Es werde alles klar bis auf
den Grund.
Und er sah: Das Licht war gut. Gott will, dass über uns, die in der
Finsternis sitzen, umschlossen von Mächten und umstellt von Rätseln,
das Licht aufgeht. Ja, mehr: dass wir selbst ein Licht werden, das in
dieser Welt leuchtet und das seine Klarheit spiegelt.
Gott trennte Licht und Finsternis und gab ihnen ihre Aufgabe und ihre
Namen: Er nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht.
Das war der erste Tag. Und dieser Tag ist heute. Wenn Gott will, dass
es für uns Tag wird, wird es Tag. Wenn wir selbst von Finsternis
umgeben sind, sendet Gott sein Licht, tröstet uns, hört unsere
Klagen und zeigt uns einen Weg, den wir gehen können. (Licht über
den Wassern, S. 176)
"Gott hat seine Welt nicht fertig geschaffen wie ein Ding, das immer
so bleiben muss." So heißt es in einem Glaubensbekenntnis
von Dorothee Sölle. Die Schöpfung geht immer weiter, weil Gottes
Segen auf ihr und in ihr ruht. Dieser Segen ist die geheime Kraft, die
alles wachsen und sich entwickeln lässt. Wie alles wächst und
sich entwickelt, das steuert Gott nicht im Einzelnen. Uns Menschen lässt
er die Freiheit, so auch seiner ganzen Schöpfung. Da tut sich vielleicht
manches, was ihn selbst überrascht und schmunzeln lässt, und
anderes, was ihn mit Trauer und Erschrecken erfüllt.
In den vergangenen paar Jahrtausenden hat sich vieles unter Mitwirkung
des Menschen entwickelt und verändert. Das ist unser besonderer
Auftrag: Wir sind Gottes Mitschöpferinnen und Mitschöpfer. Darum
geht es dem biblischen Schöpfungsbericht: Er bietet keine Theorie
über die Entstehung der Welt. Sondern voller Bewunderung stellt er
dar, wem wir unser Leben verdanken und was unsere Aufgabe in dieser wunderbaren
Schöpfung ist.
Und wie der Schöpfer sich Zeit nimmt, sein Werk zu bewundern, so
dürfen wir es auch tun.
Die Informationen über Darwin verdanke ich Dr. Matthias Glaubrecht,
Evolutionsbiologe am Museum für Naturkunde in Berlin und Autor der
Darwin Biographie "Es ist, als ob man einen Mord gesteht".
Beiträge zu Charles Darwin in der Frankfurter Rundschau:
Der den Menschen zum Affen machte (02.01.2009)
Gotteslästerer und Pfadfinder (22.01.2009)
Das Buch des Lebens (12.02.2009)
Wichtige Hinweise habe ich auch gefunden in der Veröffentlichung
der Evangelischen Kirche in Deutschland: "Weltentstehung, Evolutionstheorie
und Schöpfungsglaube in der Schule - Eine Orientierungshilfe des
Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland", EKD-Texte 94, 2008
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