Der 11. März in der vergangenen Woche war ein besonderer Tag. An
diesem Tag vor einem Jahr wurde der Ort Winnenden in Baden-Württemberg
plötzlich weltbekannt. Tim K., der siebzehnjährige ehemalige
Schüler der Albertville-Realschule erschoss fünfzehn Menschen
und verletzte elf. Als die Polizei ihn stellte, tötete er sich selbst
mit einem Kopfschuss.
Acht Schülerinnen und ein Schüler, die in diesem Jahr ihren
Abschluss machen wollten sind tot, ebenso zwei Lehrerinnen und eine Referendarin.
Astrid Hahn, die Schulleiterin, sagt: "Wir müssen versuchen,
zu einer Normalität zurück zu finden." Doch so weit sind
die Angehörigen der Ermordeten noch lange nicht. Auch in der Schule
ist es längst noch nicht so wie es vorher war.
Paulus, der Bote Jesu, schreibt:
"Gelobt sei Gott,
der Vater unseres Herrn Jesus Christus,
der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes, der uns tröstet
in aller unserer Trübsal,
damit wir auch trösten können,
die in allerlei Trübsal sind, mit dem Trost,
mit dem wir selber getröstet werden von Gott."
Gibt es einen Trost, wenn man sein Kind, seine Frau auf so schreckliche
Weise verliert? Wie soll man da "trösten mit dem Trost, mit
dem wir selber getröstet werden von Gott"?
Reimar Krauß, Pfarrer der evangelischen Gemeinde in Winnenden, sagt:
"Ich rede nicht vom lieben Gott, wenn ich über die Amoktat spreche."
(Unterschrift zu einem Bild in der Fotostrecke der FR "Winnenden:
Eine Stadt nach dem Amoklauf")
Anselm Grün, Benediktinermönch und Autor vieler Bücher
über Spiritualität, schreibt: "Trösten heißt
nicht, dem anderen tröstende Worte zu sagen. Vor allem aber heißt
es nicht, ihn mit frommen Worten zu vertrösten. Das deutsche Wort
Trost kommt von Treue und bedeutet ursprünglich: Festigkeit. Trösten
heißt also, dass ich bei dem anderen stehen bleibe. Ich halte seine
Tränen, seine Verzweiflung, seine Anklagen, seine Sinnlosigkeit aus.
Ich überspiele die Sinnlosigkeit nicht, indem ich mit biblischen
Worten beweisen möchte, dass der Tod doch wohl einen Sinn haben werde.
Trösten heißt, dass ich schweigend beim anderen aushalte,
ohne mit irgendwelchen Worten etwas zu beschwichtigen." (Publik-Forum
Extra 5/09, S.6-7)
Etwas beschwichtigen, das war nach der Bluttat in Winnenden überhaupt
nicht möglich. Schock und Verzweiflung der Angehörigen, Mitschüler
und Lehrerkollegen waren grenzenlos.
Annette Kull leitete die Notfallnachsorge des Deutschen Roten Kreuzes.
Sie sagt: "Manchmal geht es einfach nur darum, die Menschen in den
Arm zu nehmen, da zu sein und menschliche Nähe zu zeigen."
(ad hoc news 17.03.09)
Darin sieht auch Anselm Grün den Trost, den ein Mensch einem anderen
geben kann: "Wenn ich es schweigend in der Verzweiflung und Trauer
des andern aushalte, dann kann ich ihn einladen, einfach zu erzählen.
Ich muss gar nichts sagen. Ich brauche nur zuzuhören und durch mein
Zuhören den anderen noch mehr einladen zu erzählen".
Diese Erfahrung hat auch Annette Kull in den Tagen nach dem Amoklauf
gemacht: "Viele wollten erzählen".
Sich den Schmerz, die Trauer, die ohnmächtige Wut von der Seele reden,
das etwas, das einen in der Verzweiflung trösten kann.
Noch einmal Anselm Grün: Das deutsche Wort "trauern"
kommt von "matt werden, schwach werden, keinen Boden unter den Füßen
haben." Wer in der Trauer den Boden unter den Füßen verliert,
sehnt sich nach einem, der ihm beisteht und ihm durch sein Stehen wieder
Stehvermögen vermittelt und Festigkeit verleiht.
Das lateinische Wort für Tröster ist "consolator".
Das ist zusammengesetzt aus "con", das heißt "mit",
und aus "solus", das heißt "allein". Der Tröster
ist der, der die Einsamkeit des Trauernden teilt und mit ihm aushält."
So weit Anselm Grün.
Viele Psychologen, Notfallseelsorger und zweihundert ehrenamtliche Kräfte
waren nach der Mordtat im Einsatz und haben Eltern, Schüler und
Lehrer betreut. Sechshundert Schüler erlebten den Amoklauf, fünfhundert
von ihnen sprachen mit Psychologen, etwa fünfzig sind noch immer
in psychologischer Behandlung. Im gesamten Landkreis sind Therapeuten
ausgebucht. Der Bedarf an professioneller Betreuung ist immer noch groß.
Die Betroffenen selbst versuchen auf unterschiedliche Weise, ihren Schmerz
zu bewältigen.
Die Familie Minasenko trauert still um den Verlust ihrer Viktorija. Eltern
und Tochter fühlten sich als "Dreieck", als komplette kleine
Familie. Dieses "Dreieck" ist zu Bruch gegangen. Die Eltern
trauern still, die Mutter komponiert Klavierstücke für die tote
Tochter.
Gisela Mayer trauert anders um ihre Tochter Nina, die als Referendarin
an der Schule tätig war. Sie schrieb ein Buch mit dem Titel "Die
Kälte darf nicht siegen". Darin zeigt sie laut Verlagswerbung,
"was sich ändern muss, damit es kein zweites Winnenden gibt".
Gisela Mayer sitzt bei Wieland Backes im Nachtcafé des Südwestrundfunks.
Sie wird im NDR-Kulturmagazin porträtiert, gibt Interviews und liest
auf der Leipziger Buchmesse. (Südkurier, Ein Jahr nach Winnenden)
Hardy Schober hat bei dem Amoklauf seine Tochter verloren Jana. Er gab
daraufhin seinen Job in der Finanzbranche auf und gründete das "Aktionsbündnis
Amoklauf Winnenden". Diese Initiative von Eltern der Opfer arbeitet
gegen "Gewalt an Schulen", kritisiert Killerspiele und den so
genannten Schießsport mit großkalibrigen Waffen. So versuchen
Schober und andere Eltern dem Tod ihrer Kinder nachträglich noch
einen Sinn zu geben.
Hardy Schober erzählt von der heute sechzehnjährigen Elena.
Sie war bei dem Attentat von mehreren Kugeln getroffen worden, sie hat
überlebt, während drei ihrer Freundinnen starben, die neben
ihr in der Klasse 9c saßen.
Elena war seelisch stark, sie konnte schon wenige Wochen danach mit Fremden
über die Tat sprechen, darüber, wie sie versuchte, den Tod ihrer
Freundinnen zu verarbeiten. Doch dann kam der Zusammenbruch. "Das
ist fast immer so", sagt Schober. Erst sehe es aus, als habe man
sich gefangen, "und dann, Monate später, bricht es umso heftiger
hervor". Schober weiß, dass auch er hoch gefährdet ist,
in ein "tiefes Loch zu fallen, in einem Wellenberg der Gefühle
zu versinken". Er bekämpft seine Trauer, indem er zehn, zwölf,
manchmal mehr Stunden am Tag für seine Stiftung rackert." So
eine Tat darf sich nicht wiederholen", sagt er, das treibt ihn an.
("Es tut noch höllisch weh", FR 08.03.2010)
Der Zeitungsartikel, in dem Hardy Schober zu Wort kommt, trägt die
Überschrift: "Es tut noch höllisch weh".
Trost gaben sich am vergangenen Donnerstag die Trauernden gegenseitig.
Die Eltern und Verwandten der fünfzehn Toten hatten sich am frühen
Morgen in der Halle gegenüber der Realschule versammelt. Dort wurden
auf einer Leinwand Bilder aus dem Leben der Opfer gezeigt und Gedichte
vorgetragen, teilweise mit Musik untermalt. Schüler schmückten
im Saal einen Laubbaum mit Symbolen wie einer Sonne, einem Engel oder
einem Fußball. Auf diesen sind die Namen der Toten eingraviert.
Der Baum soll auf dem Hof der Schule eingepflanzt werden.
Zum Zeitpunkt des Verbrechens um 9.33 Uhr bildeten die Trauernden eine
Menschenkette an der Schule. Zugleich läuteten alle Kirchenglocken
in Winnenden. Es war ohne jede Aktion, außer mit vielen, vielen
Tränen.
Im anschließenden öffentlichen Teil legten Schüler der
Albertville-Realschule Steinplatten und rote Rosen für ihre erschossenen
Klassenkameraden und Lehrerinnen nieder.
Und sie formten einen "Weg in die Zukunft" mit Kieselsteinen.
Diese waren beschriftet mit Worten der Hoffnung wie "Liebe",
"Frieden" oder "Engel". (FR online 11.03.2010)
Ein Schüler sagte bei der Gedenkfeier: "Der 11. März ist
klar ein Teil unseres Lebens geworden. Doch wir wollen nicht, dass er
unser Leben beherrscht."
Rituale wie das Jahresgedächtnis wirken tröstend. Manchmal wird
in einem solchen Ritual der Trost spürbar, von dem Paulus spricht,
der Trost, "mit dem wir selber getröstet werden von Gott".
Gott tröstet durch seinen Heiligen Geist, der im Johannes-Evangelium
auch ausdrücklich der "Tröster" genannt wird. Der
Heilige Geist umarmt die betrübten Gemüter und stärkt die
inneren Kräfte, damit Menschen mit dem Verlust leben können.
Das kann man vielleicht nicht sagen, wenn ein Mensch von großem
Leid betroffen ist, aber man kann es für sich glauben: Gott ist dem
Menschen in seinem Leid nahe durch den Heiligen Geist, der tröstet
und Mut macht.
Man kann die Nähe Gottes auch selber spürbar machen durch den
Trost, den man gibt. Denn Trost geben heißt, einen anderen Menschen
Gottes Nähe spüren zu lassen, ob er sie als solche erkennt oder
nicht. Entscheidend ist, dass der Getröstete wieder Boden unter
den Füßen spürt, dass Schmerz und Leid zu neuer Lebenskraft
verwandelt werden.
Gelobt sei Gott,
der Gott allen Trostes,
der uns tröstet in aller unserer Trübsal,
damit wir auch trösten können,
die in allerlei Trübsal sind,
mit dem Trost, mit dem wir selber
getröstet werden von Gott.
Amen.
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