Es geschah vor einem Jahr. Hier in der Nähe. Ich habe sie noch im
Ohr, die Hubschrauber, die Sirenen, die seit dem Nachmittag im Dauereinsatz
waren. Eine Katastrophe mit Ansage. Oder wie es Samstag Abend in spiegel
TV hieß: "Eine amtlich genehmigte Katastrophe".
Denn Warnungen gab es genügend. Im Herbst 2008 hatte eine interne
Arbeitsgruppe der Stadt, zusammengesetzt aus Vertretern des Ordnungsamtes,
der Feuerwehr und der Polizei getagt. Ergebnis: Der öffentliche Raum
in der Stadt Duisburg ist für die Durchführung einer Loveparade
ungeeignet. Konsequenz: Dieser Bericht ist sofort fest unter Verschluss
genommen worden.
(Loveparade-Desaster Duisburg für Loveparade völlig ungeeignet,
NRZ 27.07.2010)
Am 22. März 2010 fand ein Seminar statt für Verwaltungsbeamte,
die mit der Planung der Loveparade beauftragt waren. Sie sind dabei eindringlich
auf mögliche Risiken hingewiesen worden. Der damalige Dortmunder
Feuerwehrchef hat die Planungen als "Irrsinn" bezeichnet und
vor Verletzten und Toten gewarnt. Konsequenz: Dieses Seminar ist im Zwischen
- wie im Schlussbericht der Stadt Duisburg vergeschwiegen worden.
(Warnungen im Bericht verschwiegen, NRZ 13.07.2011)
Auch Mitarbeiter der Duisburger Stadtverwaltung haben Mängel in
der Planung deutlich gesehen und benannt. Auch sie sind zum Schweigen
verpflichtet worden mit dem Hinweis, der OB wünsche die Veranstaltung.
Mit Billigung ihrer Vorgesetzten haben Verwaltungsbeamte alle Augen fest
zugedrückt und notwendige Überprüfungen gar nicht durchgeführt.
Die Staatsanwaltschaft schreibt in der Ermittlungsate: "Hätten
die Mitarbeiter (des Bauordnungsamtes) pflichtgemäß die entsprechenden
Kontrollen und Überprüfungen vorgenommen, wären Verstöße
des Veranstalters festgestellt worden." Dies hätte den Stopp
der Loveparade bedeutet.
(Dressler und Rabe im Fokus der Loveparade-Ermittlungen, NRZ 11.07.2011)
Eine Katastrophe mit Ansage. Warnungen wurden missachtet, weil einflussreiche
Leute die Veranstaltung unbedingt wollten: Der Duisburger Oberbürgermeister,
seine Partei und auch Vertreter der anderen Ratsparteien, die damals noch
schwarz-gelbe Landesregierung, die Macher der Kulturhauptstadt Ruhr, natürlich
der Veranstalter, ein Geschäftsmann, der weiß, was er will.
Sie alle haben sich über alle Bedenken und Warnungen, die es reichlich
gegeben hat, hinweggesetzt. Das Das Ergebnis dieses verantwortungslosen
Handelns: 21 tote und über 500 verletzte junge Menschen.
Den Eltern, die Kinder verloren haben, geht es schlecht. Sehr viele Verletzte
leiden unter Depressionen. Sie werden ein Leben lang mit den Folgen des
Unglücks zu tun haben.
Zu ihnen zählen Kerstin und ihr Freund Detlev, beide Anfang 40. Zusammen
mit Kerstins 15-jähriger Tochter gerieten sie plötzlich ins
Zentrum der Katastrophe. Die Mutter kam zu Fall. Ihr Freund stürzte
auf sie, sie wurde ohnmächtig.
Bis heute können beide nicht begreifen, wie sie und Tochter Mandy
überlebt haben. Äußerlich sind sie mit Schürfwunden,
Prellungen, einem gequetschten Knie glimpflich davongekommen. Doch die
Psyche ist tief erschüttert. Kerstin brach Wochen später bei
ihrer Arbeit im Kindergarten zusammen. Wenn Kinder lärmten, hörte
sie plötzlich wieder das Schreien im Tunnel und spürte die Enge.
(Loveparade Trauma Loveparade - Die Seele hat für immer Schaden genommen,
NRZ 09.07.2011)
Schlimm für die, die das Grauen im Tunnel erlebt haben, und für
Angehörigen der Toten ist nicht nur der seelische Schmerz. Schlimm
ist auch, dass niemand die Verantwortung für die Katastrophe übernehmen
will.
Alle, die verantwortlich sind, haben Angst vor der Schuld. Niemand will
schuld an dem Tod der 21 Menschen sein und an den Verletzungen, die Menschen
erlitten haben. Eine solche Schuld lastet schwer. Sie kann einem niemand
wegnehmen. Kein Mensch kann eine solche Schuld vergeben. Da ist nichts
wieder gut zu machen. Der Tod eines Menschen ist unwiderruflich.
Christen sollen helfen Lasten zu tragen
Als Christen sind wir nicht dazu berufen, zu urteilen oder zu verurteilen.
Unsere Aufgabe besteht darin, Lasten mitzutragen.
"Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen."
Der Apostel Paulus hat das geschrieben. Dieses Wort ist ein Grundprinzip
des christlichen Handelns.
"Helft einander, die Lasten zu tragen." So übersetzt die
neue Basisbibel. Denn niemand kann einem anderen dessen Last abnehmen.
Aber man kann einem anderen beim Tragen der Last helfen.
Als Christen und als Kirche haben wir uns zuerst um die Last derer zu
kümmern, die leiden. Deshalb gestalten evangelische und katholische
Geistliche die Gedenkfeier mit, die heute Nachmittag im Stadion stattfindet.
Der für die Notfallseelsorge zuständige Landespfarrer hat seit
einem Jahr mehrere Treffen der Angehörigen und der Verletzten geleitet
und mit ihnen gemeinsam die Feier vorbereitet. Nach deren Wünschen
soll die Gedenkfeier gestaltet werden. Ministerpräsidentin Hannelore
Kraft soll die Feier koordinieren. Viele Notfallseelsorgerinnen und Seelsorger
sind im Einsatz. Sie betreuen die Angehörigen der Toten und andere,
die mit dem Schrecken über das Erlebte nicht fertig werden. Gemeinsam
werden sie an den Ort gehen, wo das Unglück passierte.
So tragen viele Menschen die Lasten derer mit, denen das Unglück
schweres Leid zugefügt hat. Einer von denen, die das auf Wunsch der
Leidtragenden tun sollen, ist ein Sänger der sich "der Graf"
nennt. Die Gruppe mit der er auftritt, heißt "Unheilig",
unter jungen Leute ist die Band bekannt.
Die NRZ hat vor einer Woche ein Interview mit ihm abgedruckt. Seine Gedanken
sind sehr bedenkenswert:
- Lassen Sie uns über Trauer sprechen. Wie gibt man Trauernden
Halt?
- Indem man die Trauernden anspricht. Indem man überhaupt den
Mut hat, sie anzusprechen. Es ist immer richtig, den Trauernden entgegenzugehen
- selbst wenn man erst nicht weiß, was man sagen soll. Einfach
da sein.
- Hilft es, wenn man gemeinsam trauert?
- Definitiv. Ich habe die Erfahrung gemacht, als ein enger Freund von
mir plötzlich gestorben ist. In dieser Zeit war es für mich
wichtig zu erfahren, dass ich nicht alleine auf der Welt bin. Dass jemand
anderes gesagt hat: Ich bin für Dich da.
- Wie lange hält Trauer an?
- Der Verlust eines Menschen währt ewig. Das kann man auch nicht
wieder gut machen, die Menschen sind einfach nicht mehr da. Die Trauer
aber erlebt unterschiedliche Phasen. Am Anfang ist man am Boden zerstört,
aber man denkt auch an die schönen Augenblicke mit dem Menschen,
und man merkt dann: Diese Erinnerungen bleiben. Das ist das Positive.
Die schwierigste Phase der Trauer ist, wenn man wieder Freude empfinden
will und man deshalb plötzlich ein schlechtes Gewissen hat. Diese
Phase beschreibe ich auch in meinem Lied "Geboren um zu leben".
Der nächste Schritt ist, dass man seinen Frieden schließt.
Man merkt, wie schnell das Leben vorbei sein kann, wie unwichtig viele
Kleinigkeiten sind, über die man sich im Alltag ärgert. Und
dass man die Zeit, die man hat, nutzen soll.
- Die Wunden der Loveparade scheinen nur schwer zu verheilen. Warum?
- Weil nicht mit offenen Karten gespielt wird. Erst wenn Du keine Fragen
mehr hast, kannst Du Deinen Frieden schließen. Du musst ein Verständnis
dafür entwickeln können, was passiert ist. Die Möglichkeit,
dieses zu entwickeln, muss man den Angehörigen endlich geben.
("Der Graf" ist "immer noch geschockt" über
Loveparade, NRZ 17.07.2011)
Sätze, die ich nur unterschreiben kann. Viele Tränen werden
fließen, wenn er sein Lied singt. Darin heißt es:
Es fällt mir schwer, ohne Dich zu leben,
jeden Tag zu jeder Zeit einfach alles zu geben.
Ich stell' mir vor, dass Du zu mir stehst,
und jeden meiner Wege an meiner Seite gehst.
Ich denke an so vieles, seit dem Du nicht mehr bist,
denn Du hast mir gezeigt, wie wertvoll das Leben ist.
Wir war'n geboren um zu leben,
mit den Wundern jener Zeit,
sich niemals zu vergessen bis in alle Ewigkeit.
Wir war'n geboren, um zu leben
für den einen Augenblick, bei dem jeder von uns
spürte, wie wertvoll Leben ist.
Es ist gut, wenn dabei Tränen fließen. Denn Tränen reinigen
die Seele. Tränen zulassen, da sein, Anteil nehmen, so geschieht
das Mittragen.
Wenn Menschen spüren, dass sie in ihrem Schmerz gehalten und getragen
sind, dann wird mit der Zeit die Freude am Leben zurückkehren. Dann
werden sie eines Tages auch wieder spüren, wie wertvoll Leben ist,
und sagen können: ´Wir sind geboren, um zu leben`.
Lasten tragen heißt auch, Verantwortlichkeiten benennen
Lasten tragen. Der Apostel Paulus spricht in dem Abschnitt vor allem
von der Last der Schuld: "Wenn ein Mensch von einer Verfehlung ereilt
wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist".
Bei der Planung und Durchführung der Loveparade sind viele schwerwiegende
Fehler gemacht worden. Sonst wäre es nicht zu dieser Katastrophe
gekommen. Aufgabe der Kirche ist es nicht, mit dem Finger auf irgendjemanden
zu zeigen und zu sagen: du bist schuld. Als Christen und als Kirche sollen
wir aber Menschen, die Verantwortung tragen, auffordern,
diese auch zu übernehmen.
Als Kirche und als einzelne Christen tragen wir die Last der Stadt mit.
Diese Last besteht darin, dass die Stadtspitze durch einen beschämenden
Umgang mit der Katastrophe die ganze Stadt in Verruf gebracht hat. Wir
sind Teil dieser Stadt. Notgedrungen tragen wir das Versagen der Stadtspitze
mit und die Last, unter der die ganze Stadt dadurch zu leiden hat.
Wie können wir als Christen und Kirche diese Last mittragen? Vielleicht
so, wie es Fritz Pleitgen, Geschäftsführer des Kulturhauptstadt Ruhr.2010, beispielhaft
getan hat. Er hatte noch in der Nacht der Katastrophe den Mut, moralische
Verantwortung zu übernehmen. Im Beitrag für die Tageszeitung
schreibt er:
Hochrangige Politiker von Regierung und Opposition hatten sich für
die Loveparade ausgesprochen. Kein Vorwurf deshalb, aber sie hätten
dazu stehen können. Wie alle anderen Befürworter hatten sie
sicher nicht damit gerechnet, dass sich eine fröhliche Technoparty
durch grobe Fahrlässigkeit in ein Monster verwandeln könnte.
Man hatte doch zeigen wollen, dass das Ruhrgebiet auch jungen Menschen,
deren Abwanderung man stoppen will, Attraktionen bieten kann.
Der Oberbürgermeister
hat von der Loveparade gewiss einen
Imagegewinn für Duisburg erhofft. Dass er sich der Katastrophe nicht
gewachsen zeigte, gibt er selbst zu. Zu spät. Vertrauen und Ansehen
sind dahin. So kann der Oberbürgermeister seiner Stadt nicht mehr
dienen. Bitter, aber wahr. Und die übrige politische Klasse? Warnungen
hat sie öffentlich nicht verlauten lassen. Musste der Stadtrat nach
einer solchen Katastrophe nicht zusammenstehen und in Sondersitzungen
Schaden von Duisburg abwenden? Mir nicht bekannt
Tröstlich waren und sind die aufrichtigen Bemühungen aus der
Bürgerschaft, der Opfer der Loveparade und dem Ansehen der Stadt
gerecht zu werden. Sie sind die Hoffnung, dass Duisburg doch als eine
Stadt mit Haltung wahrgenommen wird.
(Der Schrecken kehrt mit Wucht zurück - von Fritz Pleitgen, NRZ 18.07.2011)
Dass Duisburg als eine Stadt mit Haltung dasteht, die Verantwortlichen
nicht aus ihrer Verantwortung entlässt, den Opfern ein würdiges
Andenken bewahrt und den Angehörigen Raum für ihre Trauer gibt,
dazu tragen auch die evangelische und katholische Kirche bei - durch Notfallseelsorge,
öffentliche Stellungnahmen, Gedenkgottesdienste, Fürbitte. Zum
Gedenken an die Opfer werden heute Nachmittag um
17 Uhr in vielen Kirchen die Glocken läuten.
"Helft einander, die Lasten zu tragen, so werdet ihr das Gesetz
Christi erfüllen."
Und der Friede Gottes, der weit über alles Verstehen hinausreicht,
möge über unsere Gedanken wachen
und uns in unserem Innersten bewahren.
Amen.
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