Predigt am 16. Oktober 2011 |
Text: Klagelieder 3,22-26 |
Seine Güte ist alle Morgen neu |
"Sterben kommt nicht in Frage, Mama!" So heißt das Buch
von Judith End, das mich sehr berührt hat. Der Tag der Diagnose hat ihr Leben grundlegend verändert: Es ist "der Tag, an dem der Tod zu meinem Leben gestoßen ist. Und jetzt bleibt für immer. Er gehört jetzt dazu, der Sensenmann. Auch die größte Willensanstrengung kann mir mein altes Leben nicht zurückgeben, auch nicht der größte Trost, das spüre ich ganz deutlich. Herzlich willkommen in der Hölle." (S.17f) In der vergangenen Woche haben wir zwei Menschen aus unserer Gemeinde
beerdigt. Da war deutlich zu spüren: Der Tod hat Macht. Er reißt
Menschen von uns weg, wir können nichts dagegen tun. Sterben und
Vergehen gehören zum Leben dazu. Wir Menschen sind dem ausgeliefert.
Was unsere Gesundheit angeht, können wir uns mit Hilfe der Medizin eine Weile der Natur widersetzen, aber nicht dauerhaft. Denn es führt kein Weg daran vorbei, dass alles Geschaffene vergänglich ist. Wenn wir die Vergänglichkeit spüren, dann schleichen sich manchmal Angst, Wehmut und Trauer ein. Wir brauchen Widerstandskraft, um damit leben zu können. Meisterhaft darin, auch in dunkelsten Tagen die Hoffnung zu bewahren,
ist das Volk Israel. Es hat Katastrophen überstanden, an denen andere
Völker zerbrochen sind. Israel hatte und hat eine Quelle, aus der
es seine Kraft schöpft. Diese Quelle ist der Glaube. Der Glaube an
den Gott, der mit seinem Volk geht, der es nie im Stich lässt und
dessen Barmherzigkeit alle Morgen neu ist. Tröstliche Worte. Worte voller Vertrauen. An diesem Glauben hat
Israel sich fest gemacht und fest gehalten. Das Lied von der Güte des Herrn, die kein Ende hat, steht inmitten
von Klagen: "Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben. Ich bin
elend und verlassen, mit Bitterkeit getränkt." (3,17.19) so
heißt es wenige Zeilen davor und so zieht es sich durch dieses kleine
Buch der Bibel, das Buch der Klagelieder. So hat auch Judith End Trost in einem Gedicht gefunden. Als sie zur Operation
gefahren wird, murmelt sie eine Zeile von Hermann Hesse vor sich hin,
die ihr ein bisschen Beruhigung schenkt: Ähnlich wie Judith End murmelt der, der in den Klageliedern sein
Leid klagt, Verse vor sich hin, die ihm ein bisschen Beruhigung schenken: Judith End hat sich gewünscht, auch an dieser Kraft teilzuhaben.
Sie schreibt: Kurz darauf kauft sie sich eine Buddha-Figur. Die wird ihr zu einem Symbol für das, was sie sucht. Sie schreibt: "Jetzt steht er in meinem Schlafzimmer und erinnert mich daran, dass ich ganz viel von der Liebe und der Kraft, die ich brauche, auch in mir selbst finden kann." (185) Wenn Gott unser Teil ist, dann ist von seiner Kraft und seiner Liebe auch etwas in uns zu finden. "Ich muss mir nur wieder selbst zuhören und meinem Körper verzeihen", so schließt Judith End diesen Gedankengang ab. Es ist das gleiche Rezept, das der Dichter der Klagelieder anwendet: "Du, Gott, wirst meiner gedenken, meine Seele sagt mir´s." Der Beter hört auf seine Seele. Und was sie ihm sagt, nimmt er sich zu Herzen, das gibt ihm Hoffnung: Gottes Güte ist es, dass ich nicht gar aus bin, seine Barmherzigkeit hat kein Ende." Im März dieses Jahres hat Judith End ihren dreißigsten Geburtstag
gefeiert. In einem Interview sagt sie: "Ich habe mich heil und so
gesund gefühlt wie schon lange nicht mehr." Doch dann kam wenige
Tage nach ihrem Geburtstag die neuerliche Diagnose: Der Krebs war wieder
da, dieses Mal nur an einer anderen Stelle. Steve Jobs, der geniale Erfinder, hat in einer berühmten Rede, die
in den vergangenen Tagen öfter zitiert worden ist, gesagt: "Eure Zeit ist beschränkt", so rief er den Absolventen eines Studienjahrgangs zu, "also verschwendet sie nicht damit, dass ihr das Leben von jemand anderem lebt. Lasst nicht den Lärm fremder Meinungen eure eigenen inneren Stimmen ertränken. Und am allerwichtigsten: Habt den Mut, eurem Herzen und eurer Intuition zu folgen. Alles andere ist nebensächlich." "Sterben kommt nicht in Frage, Mama", hat Judith End geschrieben. Aber irgendwann ereilt es doch jeden und jede. Vielleicht kann auch dieses Wissen mit dazu beitragen, unsere Widerstandskraft zu stärken, das Wissen um die Endlichkeit. Dieses Wissen ermutigt dazu, das Leben hier und jetzt in die Hand zu
nehmen, dem eigenen Herzen und der eigenen Intuition zu folgen. Und der Friede Gottes, der weit über alles Verstehen hinausreicht,
möge über unsere Gedanken wachen
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