"Ich weiß, dass mir nichts angehört
Als der Gedanke, der ungestört
Aus meiner Seele will fließen,
Und jeder günstige Augenblick,
Den mich ein liebendes Geschick
Von Grund aus lässt genießen."
Johann Wolfgang von Goethe hat diese Zeilen verfasst. "Eigentum",
so ist das Gedicht überschrieben. Das Ich in dem Gedicht weiß,
dass ihm nichts gehört, nur der Gedanke, der jetzt fließt,
und der Augenblick, der jetzt da ist. Wenn das Ich diesen Augenblick genießen
kann, dann hat es alles, was es haben kann.
"Ein liebendes Geschick", schreibt Goethe etwas unbestimmt.
Als Christen glauben wir, dass Gott unsere Zeit in seinen Händen
hält und er uns also jeden Augenblick schenkt, den wir erleben dürfen.
Andreas Gryphius, ein anderer großer Dichter, nennt ihn beim Namen
in seinem bekannten Vierzeiler:
Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen;
mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen;
der Augenblick ist mein, und den nehm ich in acht,
so ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.
Indem ich den Augenblick wertschätze, ehre ich den Schöpfer.
Er hat Zeit und Ewigkeit gemacht. Zu allen Zeiten ist er an unserer Seite.
Ein wichtiges Thema der Fastenzeit, die am vergangenen Sonntag begonnen
hat, heißt "Versuchung". In Bezug auf die Zeit sehe ich
zwei große Versuchungen. Die eine Versuchung ist, die Vergangenheit
nachträglich verändern zu wollen. Das konnten wir in letzter
Zeit gut beobachten an dem Verhalten unseres ehemaligen Staatsoberhauptes.
Immer weitere Einzelheiten wurden bekannt, wo er etwas umsonst mitgenommen
oder starke Vergünstigen in Anspruch genommen hat. Seine Reaktion
auf die Veröffentlichungen war bis zuletzt immer gleich: mit Halbwahrheiten
das Geschehene vertuschen oder mit Rechtfertigungen, die niemand nachprüfen
kann, die krummen Geschäfte gerade biegen.
All diese Versuche, nachträglich zu verändern, was man getan,
unterlassen oder einfach nur zugelassen hat, müssen scheitern. "Das
Wasser, das du in den Wein gossest, kannst du nicht mehr herausschütten".
So hat Bert Brecht gedichtet. Was war, ist geschehen. Die Vergangenheit
ist nicht mehr mein. Ich kann nicht über sie verfügen. Ich kann
daran nichts mehr ändern. Ich muss zu dem stehen, was war. Sonst
wird es mir immer nachlaufen und meine Gegenwart belasten und stören.
Was gut war in der Vergangenheit, kann ich mitnehmen als eine Kraftquelle
für mein Leben jetzt und hier, als einen Schatz guter Erinnerungen,
an denen ich mich freuen kann.
Die andere Versuchung in Bezug auf die Zeit sehe ich in dem Bemühen,
sich die Zukunft zu eigen zu machen. Das finde ich momentan in unserer
Kirche sehr ausgeprägt. Viele Anstrengungen sind darauf gerichtet,
dass wir uns als Kirche "zukunftsfähig" machen. Das klingt
so, als hätten wir die Zukunft in der Hand, als wüssten wir,
was die Zukunft bringen wird. Einige in der Kirche scheinen schon recht
genau zu wissen, was im Jahr 2030 sein wird. Darauf werden viele Planungen
in der Kirche ausgerichtet.
Dabei weiß niemand von uns, was morgen sein wird. Bei den Haushaltsplanberatungen
beschließen die Presbyterien regelmäßig, keinen Finanzplan
für die kommenden Jahre aufzustellen, wie dies eigentlich von der
Verwaltungsordnung gefordert ist. Die Begründung lautet: Ein Finanzplan
wird nicht aufgestellt, "da zum jetzigen Zeitpunkt die Entwicklung
der Kirchensteuereinnahmen nicht seriös eingeplant werden kann."
Genügend Beispiele belegen, dass "eine arbeits- und zeitintensive
Finanzplanung für die nächsten drei bis fünf Jahre unbrauchbar
und kaum aussagefähig ist." (Protokoll 30.11.2011)
Ich selber erlebe am eigenen Leib, wie die Zukunft plötzlich unsicher
wird. So wird man darauf gestoßen, dass man die Zukunft nicht in
der Hand hat. Sie liegt einzig und allein in Gottes Hand. Natürlich
tut man selber dazu, was man kann, damit es weitergeht. Man hofft auf
eine gute Zukunft. Hoffen und auf Gottes Hilfe vertrauen, darin sehe ich
unsere Haltung als Christen gegenüber der Zukunft. Uns selbst oder
unsere Kirche zukunftsfähig machen zu wollen, das empfinde ich
als Anmaßung, so als wollten wir uns zu Herren über die Zukunft
aufspielen.
Die zukünftige Frau Präses der westfälischen Landeskirche,
Annette Kurschuss, hat das Passende dazu in einem Interview gesagt: "Christus
selbst hat uns verheißen, dass er die Kirche erhalten wird - und
darauf ist Verlass." (Unsere Kirche, 12.02.2012, S. 17)
Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen;
mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen;
der Augenblick ist mein, und den nehm ich in acht,
so ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.
Der Augenblick ist mein, den ich hier und jetzt erlebe. Die Gegenwart
ist die einzige Zeit, die wir gestalten können. Gegenwartsfähig
sollten wir als Kirche sein und als einzelne Personen. Das hat schon Paulus
der Gemeinde in Korinth eingeschärft. Im 2.Korintherbrief heißt
es:
So spricht Gott durch seinen Propheten (Jesaja 49,8): "Ich habe dich
zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen."
Seht, jetzt ist die Zeit der Gnade, seht, jetzt ist der Tag des Heils!
Ich verstehe Paulus so: Dieses Jetzt ist zu jeder Stunde unseres Lebens.
In jedem Augenblick wendet sich Gott uns freundlich zu. An jedem Tag will
er uns sein Heil erfahren lassen. Jetzt ist der Augenblick der Gnade,
jetzt ist der Tag des Heils. Gottesdienst feiern wir, um davon etwas zu
spüren, um uns daran erinnern zu lassen. Auch für diese Stunde,
in der wir hier zusammen sind, gilt: Sie ist Zeit der Gnade.
Das gilt für jede weitere Stunde und für jeden Tag. Es gilt
auch dann, wenn es uns nicht gut geht. Paulus hat am eigenen Leib erfahren,
wie schwer das Leben ist. Er kennt Trübsal, Schmerzen, Todesangst.
Er hat gelernt, in all dem darauf zu vertrauen, dass Gott da ist und
Kraft gibt, das Schwere durchzustehen. Ja, Paulus hat erfahren, dass in
der größten Not die Rettung nahe ist. Von dieser Rettung schreibt
er gleich am Anfang seines Briefes:
"Wir wollen euch, liebe Brüder und Schwestern, die Bedrängnis
nicht verschweigen, die uns in der Provinz Asien widerfahren ist. Dort
waren wir über die Maßen beschwert und über unsere Kraft,
sodass wir am Leben verzagten.
Ja, wir hielten es für beschlossen, dass wir sterben müssten.
Aber Gott hat uns vor dem sicheren Tod gerettet. Das ist geschehen, damit
wir unser Vertrauen nicht auf uns selbst setzten, sondern auf Gott, der
die Toten auferweckt, der uns aus solcher Todesnot errettet hat und uns
auch in Zukunft retten wird." (2. Korinther 1,8-10)
Selbst die Stunde höchster Todesgefahr war Zeit der Gnade. Gott war
da und hat die Not gewendet.
Weil Paulus so viel freundliche Zuwendung von Gott erfahren hat, will
er sich jederzeit als jemand erweisen, der aus der Gnade Gottes lebt.
In guten und in schlechten Zeiten, so schreibt er, erweisen wir uns als
Diener Gottes:
"in Trübsalen, Nöten und Ängsten,
in Verfolgung und übler Nachrede,
in Lauterkeit und geistlicher Erkenntnis,
in Geduld, Freundlichkeit und aufrichtiger Liebe,
in dem Wort der Wahrheit und in der Kraft Gottes,
gestärkt mit den Waffen der Gerechtigkeit
zur Rechten und zur Linken."
Wir sind nicht Paulus. So viel, wie ihm abverlangt wurde und wie er selbst
von sich verlangt hat, wird uns nicht abverlangt. Seine Aufzählung
kann uns dennoch ein Hinweis sein für unseren Dienst in der Gemeinde,
insbesondere für den Dienst im Presbyterium.
Da geht es oft um Zahlen. Der Haushaltsplan ist zu beschließen,
die Jahresabrechnung. Demnächst soll ein neues Kirchliches Finanzwesen
eingeführt werden. Unter der Abkürzung NKF geistert das schon
lange durch die Landeskirche. Das gesamte Presbyterium wird sich mit der
neuen Art der Buchführung beschäftigen müssen, um diese
dann auch zu verstehen. Die Einarbeitungsphase wird jetzt bald anlaufen.
Ein neuer Mitarbeiter für die Pflege der Außenanlagen und für
Hausmeistertätigkeiten in unseren Gebäuden soll eingestellt
werden. Das Presbyterium hat lange überlegt, wie die Stelle finanziert
werden kann.
Am Kindergarten wird angebaut. Viele Vorgespräche waren nötig,
bis der Entschluss feststand. Weitere Verhandlungen folgten, bis der Bauplan
endlich zur Genehmigung eingereicht werden konnte. Nun ist der Bau im
Gang. Jetzt kann ein Fest geplant werden, das gefeiert werden soll, wenn
der Neubau fertig ist.
Die Gemeinde lebt nicht für sich, sondern ist Teil des Kirchenkreises
und der Landeskirche. Von dort kommen Vorgaben, die in den Gemeinden
umgesetzt werden müssen. So hat die Landessynode im Januar beschlossen,
dass die Gemeinden sich zu "Regionalen Kooperationsräumen"
zusammenschließen sollen. In diesen Regionen soll gemeinsam der
Personalbestand geplant werden.
Das sind einige der Aufgaben, mit denen sich das Presbyterium in den kommenden
vier Jahren zu befassen hat. In all, was das Presbyterium berät,
beschließt und tut, soll sich das Presbyterium als Diener Gottes
erweisen. Das heißt, etwas von der freundlichen Zuwendung Gottes
zu uns Menschen soll in der Arbeit und durch die Arbeit des Presbyteriums
sichtbar und spürbar werden.
Ich meine, das geschieht hier in Wanheim insbesondere am Sonntag. Alle
Presbyteriumsmitglieder nehmen
den Gottesdienst sehr ernst. Sie sind immer zahlreich da. Alle sind bereit,
den Küsterdienst vor und nach dem Gottesdienst zu übernehmen
und darüber hinaus alle, die zum Kaffeetrinken bleiben, mit selbst
gebackenem Kuchen zu verwöhnen. Auf diese Weise kommt jedes Jahr
eine ansehnliche Summe an Geld zusätzlich in die Gemeindekasse. Dafür
sorgt übrigens auch unser Koch, Manfred Götsch, der selber einmal
Presbyter war und den Stab weitergereicht hat an seinen Sohn und der
wieder an seine Mutter. Dieser Vorgang zeigt, dass im Presbyterium ein
sehr familiäres Klima herrscht. Auch durch den freundschaftlichen
Umgang miteinander spiegeln die Presbyteriumsmitglieder etwas von der
freundlichen Zuwendung Gottes wieder.
So bemühen wir uns hier in der Gemeinde, gegenwartsfähig zu
sein. Wir tun das, was heute unsere Aufgabe ist. Natürlich schauen
wir dabei auch in die Zukunft und überlegen, wie die Entwicklung
wohl weitergeht. Dabei leitet uns die Frage: Was hilft uns am besten,
unseren Dienst als Gottes Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auszuführen?
Jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils.
Das gilt nicht nur für die Arbeit im Presbyterium. Das gilt uns allen
auch für unser persönliches Leben. Dieses Vertrauen wünsche
ich uns allen, dass jederzeit Gott mit seiner Gnade an unserer Seite ist.
Und dass wir jeden günstigen Augenblick, den Gott uns schenkt, dankbar
aus seiner Hand nehmen und genießen können. Dass wir uns schließlich
nicht viel Sorgen um die Zukunft machen; denn auch sie wird eine Zeit
der Gnade sein.
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