Predigt am 18. November 2012 |
Totensonntag |
Das Zeitliche segnen |
Vor ein paar Tagen wurde ich in ein Haus gerufen, in dem gerade eine alte Frau gestorben war. Sie war schwer krank. In den letzten Wochen hat sie sich immer wieder ein Ende ihres Leidens gewünscht. Ihre Angehörigen wussten das. Doch als die Oma dann für immer die Augen zumachte, war die Trauer groß. Denn es ist so: Man kann sich innerlich auf das Bevorstehende vorbereiten, aber wenn es so weit ist, wird einem die Endgültigkeit erst wirklich bewusst. Mit dem Eintritt des Todes fängt man an zu spüren, was man verloren hat, und die Trauer beginnt. Ich lese Sätze, die eine Frau einige Wochen nach dem Tod ihrer Mutter geschrieben hat: "Wenn ich an meine Mutter denke, fühle ich eine ganz tiefe
Liebe und Verbundenheit zu ihr und auch eine große Dankbarkeit für
alles, was sie für uns war und für uns getan hat. Gleichzeitig
fühle ich eine Leere und einen ganz tiefen Schmerz, weil sie nicht
mehr da ist, zumindest nicht körperlich. In solchen Momenten ist
es, als würde ich verschluckt und aufgefressen wie von einem schwarzen
Loch. Solche Momente kommen und gehen. Manchmal denke ich, es geht ganz
gut, dann sickert es wieder in mein Bewusstsein, dass sie nicht mehr da
ist, wenn ich nach Hause komme, dass sie mich nicht mehr im Büro
anruft, wenn es ein Rätsel zu lösen gibt, dass wir nicht mehr
zusammen einkaufen gehen oder zusammen im Garten sitzen oder uns über
einen Witz kaputtlachen. Diese Endgültigkeit ist schwer auszuhalten.
Obwohl ich sicher bin, dass sie um uns und in uns ist, ist es sehr schwer
zu begreifen, was geschehen ist. Ich kann sie ja nicht mehr sehen, anfassen,
sie anrufen. Die irdische Hülle ist ja weg. Ähnlich äußert sich eine Schwester: Wenn ich gefragt
werde, wie es mir geht, weiß ich nicht genau, was ich sagen soll,
außer, dass ich sehr, sehr, zutiefst traurig bin. Gerade auch mit
der kommenden Weihnachtszeit, laufen mir umgehend die Tränen, wenn
ich an meine Mutter denke. Ganz besonders, wenn ich an etwas Schönes
- und davon gibt es so viel - denke, macht mich das umso trauriger, weil
das nun nie mehr so sein wird, wie es war. So wie den Töchtern, die um ihre Mutter trauern, wird es vermutlich vielen gehen, die einen lieben Menschen verloren haben. Erst nach und nach kommt einem der Verlust so richtig zu Bewusstsein und man spürt, was man verloren hat. Wir haben gerade die Namen der Menschen aus unserer Gemeinde gehört, die am Ende des letzten und im Laufe dieses Jahres gestorben sind. Viele sind sehr alt geworden. Bei den meisten war es so, dass sich ihr Sterben über Wochen und Monate hingezogen hat. Es war eine Erlösung nach einem längeren Leidensweg. Das war dem oder der Verstorbenen manchmal auch anzusehen. Ein Mann erzählte, dass er Angst davor hatte, die Tür zu öffnen, hinter der sein verstorbener Vater aufgebahrt war. Er fürchtete sich vor dem Anblick. Doch als dann die Tür geöffnet war, stellte sich Erleichterung ein. Das Gesicht des Vaters strahlte einen unbeschreiblichen Frieden aus. Fast schien es so, als würde er lächeln und sagen: ´Ich hab´s hinter mir, ich bin erlöst.` Der Mann ist zu Hause auf dem Sofa ruhig eingeschlafen. So ist es einigen von denen ergangen, deren Namen wir gerade gehört haben. Sie sind in ihrer vertrauten Umgebung gestorben. Andere waren zuletzt im Krankenhaus oder in einem Heim. So unterschiedlich die Lebensläufe sind, so unterschiedlich vollzieht sich auch das Sterben. Jeder Mensch lebt sein eigenes Leben, und jeder stirbt auf seine eigene Weise. Als eine Gnade empfinde ich es, das Sterben leben zu können, auch die letzte Phase des Lebens noch selbst gestalten, bewusst von diesem Leben Abschied nehmen zu können. Das meint die alte Wendung "das Zeitliche segnen". Die ist eine wunderbare Formulierung. Denn sie drückt aus, was das Sterben sein kann: ein Segen. Bleiben wir einen Moment bei der Frage stehen, was ein Segen überhaupt
ist. Die Natur macht es deutlich. Der Regen segnet die Erde. Segen ist
eine Kraft, die die Erde fruchtbar macht. Segen schafft Wachstum und Gedeihen.
Segen bewirkt, dass Frucht wächst und reift. Die Geschichte des Mose soll uns helfen, ein wenig mehr zu verstehen, was es damit auf sich hat, das Zeitliche zu segnen. Mose hat das Volk Israel aus Ägypten geführt. Einen langen Weg ist er mit dem Volk gegangen, hat unterwegs viel Unzufriedenheit aushalten, immer wieder zwischen dem Volk und seinem Gott vermitteln müssen. Er hatte ein Ziel vor Augen: das gelobte Land, das Land, in dem Milch und Honig fließt, in dem es sich gut und in Frieden leben lässt. Gott hatte versprochen, das Volk in dieses Land zu führen. Nun ist das Land in Sichtweite. Da lässt Gott den Mose auf einen Berg steigen, damit er das ganze Land sehen kann. Er steht da mit weit geöffneten Augen und fasst sich an die Stirn, so schön und großartig ist das, was er sieht. Vor ihm liegt der Jordan, den er nicht mehr überqueren wird. Am Horizont geht strahlend die Sonne auf. Mose könnte traurig und bitter sein, weil er das gelobte Land nicht selbst betreten kann. Er könnte mit Gott hadern. So lange hat er das Volk durch die Wüste geführt. So lange hat er zwischen Gott und dem Volk vermittelt. Immer wieder musste er den Ärger der Leute aushalten, ihr Frustriertsein, wenn sie hungrig und durstig waren und der Weg zu beschwerlich wurde. Oft wollten sie sich dann von Gott abwenden. Immer wieder hat er sie zu Gott zurückgebracht. Und nun soll er für das Fehlverhalten der Israeliten auch noch büßen damit, dass er nicht in das gelobte Land hineinkommt. Mose hätte allen Grund, von Gott enttäuscht zu sein. Mose aber hadert nicht mit Gott. Sondern er blickt voller Dankbarkeit
zurück. Er erinnert sich, wie Gott das Volk geführt und bewahrt
hat auf seinen Wegen: "Der Herr ist gekommen und leuchtete ihnen
auf. Wie hat er sein Volk so lieb! (33,2.3) Es ist kein Gott wie der Gott,
der am Himmel über uns wacht und uns hilft. Zuflucht ist bei dem
alten Gott und unter seinen ewigen Armen." (33,26.27) So kann es auch heute sein, wenn jemand das Zeitliche segnet. Der Mensch blickt voll Dankbarkeit zurück. Alles leuchtet noch einmal auf in einem hellen, freundlichen Licht. Er kann sich selbst verzeihen, was er verkehrt gemacht und womit er andere Menschen verletzt hat. Er kann anderen Menschen verzeihen, die ihn verletzt haben. Er kann annehmen, dass manches offen geblieben ist. Das ist in jedem Leben so. Immer bleibt etwas offen, etwas, das man gern gemacht, gesehen, erlebt hätte, wozu man aber nicht gekommen ist. Die Fülle des Lebens können wir nie ganz ausschöpfen. Viel ist es, wenn ein Mensch sagen kann: "Ich habe ein gutes Leben gehabt. Ich hab viel Schönes erlebt. Es steht nichts Ungeklärtes zwischen mir und meinen Nächsten. Ich bin zufrieden, ich kann in Frieden gehen." Ein Leben, mit dem ein Mensch zufrieden sein kann, muss nicht ein leichtes Leben gewesen sein. Die Frau, an deren Sterbebett ich gerufen wurde, hat viel Schweres und viel Leid in ihrem Leben zu tragen gehabt. Die äußeren Umstände - Krieg, Vertreibung, Zwangsarbeit - haben es ihr über weite Strecken sehr schwer gemacht. Doch sie war dankbar für ihr Leben. Eine große Familie hatte sie um sich. Töchter und Enkel umsorgten sie. Sie war nie allein. Ihre Lieben waren auch bei ihr, als sie starb. Eine Frau, die vor ein paar Wochen gestorben ist, hat ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben. Ihre Memoiren enden vor fünf Jahren mit diesen Sätzen: "Von meiner alten Wohnung habe ich im September endgültig Abschied genommen. Allein in den großen leeren Räumen, die Wände schmutzig, ungewohnter Hall, der meinen Schritten folgt, gelebte Zeit, die nachklingt. Aus diesen Räumen ist meine Vergangenheit in Kartons hinausgetragen worden, das Klavier habe ich der Pastorin geschenkt, den Afghanen Annette, die Truhe Christoph. Den großen weißen Schrank aus dem Elternschlafzimmer konnte ich nach monatelangen Bemühungen an ein junges Ehepaar abgeben, er ist nicht der Vernichtung anheim gefallen wie meine Siematic-Küche. Ich kann nichts festhalten, auch nicht, wenn ich bleibe. Irgendwann zieht sich die Tür hinter jedem Lebensabschnitt zu. Keine Zeit, auch nicht meine, kennt einen Hort für die Ewigkeit, selbst wenn ich mich darin geborgen fühle. Geborgenheit gaukelt sich selbst nur vor; sie kann nicht halten, was sie dir verspricht. Sie ist flüchtig wie mein Leben. Es ist Zeit zu gehen. Ein letztes Mal wandert mein Blick durch die leeren
Räume. Die Wände werfen die Schattenrisse der Gegenstände
auf mich zurück, die sich dort einst anlehnten. Es steigen die Bilder
vertrauter Gegenstände wieder auf. Der Zeitnebel senkt sich weiter
und gibt die Sicht frei auf die Menschen, die über dieses Parkett
liefen. So segnet ein Mensch das Zeitliche. Voller Dankbarkeit blickt die alte Frau zurück auf ihr Leben. Sie hat geregelt, was an Zeitlichem zu regeln ist. Ihre Lebenskraft, ihre Liebe gibt sie weiter an die Lebenden, die sie liebt. Sie gönnt ihnen ihr Weiterleben und wünscht ihnen Glück und Segen. Und sie wünscht sich selbst, es möge auch für sie Frucht wachsen aus dem, was zeitlich war, für die Ewigkeit. Wenn wir uns heute erinnern an unsere Lieben, die gegangen sind, können
wir vielleicht auch sagen: Er oder sie hat das Zeitliche gesegnet. Wenn wir trauern, empfinden wir die Liebe als Schmerz. Mit der Zeit verwandelt
sich der Schmerz in ein Gefühl tiefer Dankbarkeit. Denn die Liebe
bleibt.
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