"Was sollen wir nun hierzu sagen? Ist denn Gott ungerecht?"
Vor vier Jahren hat die Frau, ich nenne sie Angelika, ihren Mann verloren.
Er war kerngesund. Ein grausamer Unfall hat ihn aus dem Leben gerissen.
Er war auf der Stelle tot. Bis heute weiß niemand, wie dieser Unfall
geschehen konnte. Sie war am Boden zerstört, hat Gott angeklagt:
´Wie kannst du das zulassen? Wo waren die Engel, die uns doch behüten
sollen auf allen Wegen?` Diesen Psalmvers, der als Taufspruch sehr beliebt
ist, kann sie seitdem nicht mehr hören.
Ist Gott ungerecht? Der Eindruck drängt sich immer wieder auf. Dem
einen schickt er einen Engel, der ihn bewahrt in höchster Not. Den
anderen lässt er in sein Unglück laufen. Den einen rettet er
aus einer schier ausweglosen Lage. Den anderen lässt er umkommen.
Gerecht ist das nicht. Es ist vielmehr ein Grund, an Gott zu zweifeln.
Gibt es ihn überhaupt? Und wenn es ihn gibt, warum hilft er dann
nicht allen Menschen gleichermaßen?
Uralte Menschheitsfragen sind das, die sich auch in manchen Psalmen widerspiegeln.
Zum Beispiel in dem Psalm, dem die Jahreslosung entnommen ist.
"Beinahe wäre ich an Gott irre geworden,
als ich sah, dass es den Gottlosen so gut ging.
Denn für sie gibt es keine Qualen,
gesund und feist ist ihr Leib.
Sie sind nicht in Mühsal wie sonst die Leute
und werden nicht wie andere Menschen geplagt.
Sie brüsten sich wie ein fetter Wanst
und tun, was ihnen einfällt.
Sie achten alles für nichts und reden böse,
sie reden und lästern hoch her.
Ich dagegen halte mein Herz rein
und wasche meine Hände in Unschuld
und bin doch täglich geplagt,
mein Unglück ist jeden Morgen wieder da."
Was sollen wir hierzu sagen? Ist das gerecht? Bestimmt nicht. Die Welt
ist voller Ungerechtigkeit. Es ist zum Verzweifeln.
Wie löst Paulus das Problem? Er wischt die Frage einfach vom Tisch:
"Ist denn Gott ungerecht? Das sei ferne!" Das kann nicht sein.
Gott ist nicht ungerecht, er ist gnädig. Um das zu belegen, zitiert
Paulus aus dem 2. Buch Mose. Da sagt Gott zu Mose: "Wem ich gnädig
bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme
ich mich." Daraus folgert Paulus: Es liegt nicht an unserem Verhalten,
sondern es liegt allein an Gottes freier Entscheidung, uns seine Gnade
zuzuwenden.
Es liegt also auch nicht an unserem Tun und Lassen, wenn uns ein Unglück
widerfährt. Manchmal sagen Menschen, die von einer schweren Krankheit
heimgesucht werden: ´Was habe ich getan? Wofür werde ich so
gestraft?`
Nein, die Krankheit ist keine Strafe Gottes. Wenn es nicht an uns liegt,
dass Gott Erbarmen mit uns hat, dann liegt es auch nicht an uns, wenn
er uns ins Unglück laufen lässt.
Wieder sind wir bei der Frage: Warum ist das so? Ja, noch schärfer
müssen wir fragen: Ist das nicht Willkür, wenn Gott seine Gnade
erweist, wem er will? Das heißt ja andersherum: Und wem er nicht
gnädig sein will, dem ist er eben nicht gnädig.
Paulus schneidet den Gedanken einfach ab mit barschen Worten: "Lieber
Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht etwa
ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so? Kann nicht ein Töpfer
aus einem Klumpen Ton machen, was er will? Er kann ein Schmuckstück
daraus machen oder ein unansehnliches Gefäß, das man irgendwo
in die Ecke stellt."
Dieses Bild will Paulus nun auf uns Menschen übertragen. Er hat die
einen zu Gefäßen des Zorns gemacht, andere zu Gefäßen
der Barmherzigkeit. Aber auch die Gefäße des Zorns hat er mit
großer Geduld ertragen. Während er diese Gedanken schreibt,
merkt Paulus, dass er mit dem Vergleich nicht weiterkommt: Gefäße,
die zum Zorngericht bestimmt sind, und solche, die zum Heil bestimmt sind.
Paulus hat sich da verrannt und bricht den Gedanken mitten im Satz ab.
Angesichts des Christusgeschehens ist er falsch angesetzt. Denn durch
Jesus Christus hat Gott gezeigt: es gibt keine Verworfenen und Bevorzugten.
Alle sind vor Gott Sünder, die Gott aus seiner Gnade zum Heil berufen
hat. Allen gilt sein Erbarmen. Alle sind berufen, Gefäße seiner
Herrlichkeit zu sein.
Wenn einem etwas Schweres widerfährt, der jähe Tod des Ehepartners
oder eine eigene böse Krankheit, dann kann das schon ein Trost sein:
Was mir widerfährt, ist keine Strafe Gottes. Ich muss nicht anfangen,
in meinem Leben zu suchen: Was habe ich Böses getan? Was habe ich
versäumt?
Was wir versäumen oder verkehrt machen, darauf werden wir ja heutzutage
ständig hingewiesen: Du musst gesund leben. Du musst dich gesund
ernähren. Du darfst dies und jenes nicht. Die Gesundheit ist eine
neue Religion geworden. Diese Religion bestraft jeden, der nicht gesund
lebt und sich nicht gesund ernährt. Da heißt es dann: Selbst
schuld wenn du jetzt Krebs oder Zucker oder was am Herzen hast. Selbst
schuld, wenn du zu dick bist, wenn deine Knochen schmerzen und wenn es
dir insgesamt nicht gut geht. Die Gesundheitsreligion ist ziemlich unbarmherzig.
Das ist Gott glücklicher weise nicht. Sein Grundwesenszug ist Barmherzigkeit.
Alle sind berufen, Gefäße seiner Herrlichkeit zu sein.
Doch nicht alle bekommen das gleichermaßen zu spüren. Die Frage
der Frau, die ihren Mann durch einen Unfall so plötzlich verloren
hat, bleibt ja: Konnte Gott nicht einen Engel schicken, der meinen Man
aufgehalten hätte? Warum hat er das nicht getan? Handelt Gott nicht
ungerecht? Den einen schickt er einen Engel, anderen nicht?
Wir kommen aus dieser Frage nicht heraus, wenn wir bei unseren Vorstellungen
von Gerechtigkeit bleiben.
In der Regel denken wir an eine Eigenschaft von Gott, wenn wir nach Gottes
Gerechtigkeit fragen. Wir denken, ein gerechter Gott muss jeden gleich
behandeln.
In der Bibel wird Gerechtigkeit Gottes jedoch anders verstanden. In der
Bibel geht es bei der Gerechtigkeit Gottes nicht um eine Eigenschaft.
Vielmehr geht es um Gottes Beziehung zu seinem erwählten Volk. Gott
wird seinem Volk "gerecht", indem er es nicht im Stich lässt.
In allen Wirrungen und Verirrungen ist Gott seinem Volk nah.
Gottes ist gerecht, das bedeutet also: Gott kommt uns nah. In Freud und
Leid ist er an unserer Seite. Er sucht die Beziehung zu uns Menschen.
Er macht uns zu seinen Bündnispartnern. Und er steht zu den Bündnisverpflichtungen,
die er selbst eingegangen ist. Diese Verpflichtung besteht in dem einen
kurzen Satz: Ich bin bei dir.
Ich bin bei dir, wenn du an einer schweren Krankheit leidest. Ich gebe
dir Kraft damit zu leben. Ich bin bei dir, wenn du trauerst um deinen
Mann. Ich sende dir meinen Geist, der tröstet und Mut macht. Ich
bin bei dir, wenn etwas Schweres dich bedrückt. Ich stärke dich,
dass du das Schwere tragen kannst. Ich gebe dir jederzeit so viel Widerstandskraft,
wie du brauchst. Aber ich gebe sie dir nicht im Voraus. Gottes Gerechtigkeit,
das meint im biblischen Sinn seine Treue, seine Verlässlichkeit.
Er steht zu uns Menschen, mit denen er sich verbündet hat. Er bleibt
an unserer Seite.
Das hat Angelika nach dem Verlust ihres Mannes zu spüren bekommen.
Zwei Jahre lang hat sie sehr getrauert. Aber sie hat ihren Glauben nicht
aufgegeben. Der gibt ihr Halt. Trost und Halt geben ihr auch andere Menschen,
deren Hilfe sie in Anspruch nimmt. Inzwischen kann sie über ihren
Mann sprechen, ohne in Tränen auszubrechen. Sie hat wieder Freude
am Leben und geht selbstbewusst ihren Alltag an.
"Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst?"
Das klingt sehr barsch. So als dürften wir keine Zweifel an Gott
haben. Doch, die dürfen wir haben. Paulus will uns davor bewahren,
dass wir uns zu sehr in unsere Zweifel verrennen. Ich habe es selbst gemerkt
im Laufe dieser Predigt: Immer wieder bin ich auf die Frage zurückgekommen,
ist denn Gott ungerecht? Wir können dafür endlose Beispiele
finden. Aber was hilft uns das?
Das Leben ist wunderschön. Es ist es auch schrecklich, hart und
schwer. Es wirft Rätsel auf, die wir nicht lösen können.
Die Frage "warum?" führt uns immer tiefer in die Rätsel
hinein. Denn wir finden darauf keine Antwort.
Der Beter des Psalms, der so heftig an Gottes Gerechtigkeit zweifelt,
wurde fast irre an seinen Zweifeln. "Es tat mir wehe im Herzen und
stach mich in meinen Nieren, dumm wie ein Rindvieh stand ich da",
so drückt er seine Verzweiflung aus. Und dann schneidet er seine
Zweifel einfach ab. Er löst sich von den Gedanken, die ihn immer
tiefer in die Zweifel hineingezogen haben, macht in seinem Inneren gleichsam
eine Kehrtwendung um 180 Grad. Er hört auf, Gott Vorhaltungen zu
machen. Statt dessen sucht er Halt bei Gott: "Dennoch bleibe ich
stets an dir, denn du hältst mich bei meiner rechten Hand."
Mit der Rätselhaftigkeit unseres Daseins müssen wir leben,
auch mit der Rätselhaftigkeit unseres Gottes. Er kommt uns nah, aber
er bleibt uns auch fern und fremd. Wir müssen ihn immer wieder neu
suchen, immer wieder die Kraft aufbringen zu diesem trotzigen "Dennoch".
Nah kommt er uns dadurch, dass er sich selbst der Rätselhaftigkeit
des irdischen Lebens unterworfen hat. In Gestalt seines Sohnes hat er
das Leben mit uns Menschen geteilt, das Leben mit seinen Höhen und
Tiefen. Jesus hat fröhliche Feste gefeiert. Aber er musste am Ende
auch schrecklich leiden und auf qualvolle Weise sterben. Warum tut Gott
das? so kann man auch hier wieder fragen.
Er tut das, um uns zu zeigen, dass er wirklich an unserer Seite ist in
allem, was im Leben auf uns zukommt. Er teilt mit uns Freude und Leid.
So wird Gott uns gerecht. Er bleibt mit uns in Beziehung, er steht zu
dem Bund, den er mit seinem Volk Israel und mit allen, die an ihn glauben,
geschlossen hat. alle sind berufen, "Gefäße seiner Barmherzigkeit"
zu sein. Alle, die von Herzen glauben und den Namen des Herrn anrufen.
(Römer 10,10.13)
Ist Gott ungerecht? Wir haben gemerkt, dass diese Frage uns nicht weiterführt.
Was uns hilft, ermutigt und tröstet ist allein der Glaube, dass Gott
bei uns ist in allem, was passiert. Es tut gut, wenn auch wir in allen
Rätseln, Fragen und Zweifeln, die uns überkommen, immer wieder
sagen können: "Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst
mich bei meiner rechten Hand."
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