Die Evangelische Kirche im Rheinland "bezeugt die Treue Gottes,
der an der Erwählung seines Volkes Israel festhält. Mit Israel
hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde." Dieser Satz
steht seit 1996 als Grundartikel in unserer Kirchenordnung. Dies ist eine
sehr bedeutsame Hinzufügung. Eine lange Diskussion in der ganzen
Landeskirche ist ihr vorausgegangen.
Lange Zeit haben Christen die Juden abgelehnt, haben Feindschaft und Haß
gegen sie gepredigt. Auf dem Boden des christlichen Abendlandes hat ein
Vernichtungsfeldzug gegen das jüdische Volk stattgefunden, dem sechs
Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Nach dieser Geschichte ist
der Satz in unserer Kirchenordnung so etwas wie ein neuer Anfang. Eine
Umkehr. Die Kirche bezeugt, dass sie aus der Geschichte gelernt hat. Sie
kehrt um zu ihren Wurzeln, die sie jahrhundertelang verschwiegen, verraten
und bekämpft hat.
Dabei hätte sie es von Anfang besser wissen müs-sen. Hätte
sie nur auf Paulus gehört. Schon zu seiner Zeit gab es Christen,
die abfällig auf die Juden herabblickten. Sie hielten sich für
etwas Besseres. Paulus spricht die Leute in Rom auf ihre Überheblichkeit
an und schreibt: "Ich will euch, liebe Brüder, dies Geheimnis
nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet."
Die Christen in Rom meinten offenbar, dass sie den wahren Glauben hätten.
Und dass Gott nun sie erwählt und die Juden verstoßen hätte.
Dass also in Gottes Heilsplan die Kirche an die Stelle des jüdischen
Volkes gerückt wäre. ´Wir sind das Gottesvolk, die Juden
haben ihr Erwähltsein vertan. Denn sie haben den Erlöser gekreuzigt.
Sie glauben nicht an Jesus als den Messias.` So dachten damals Christen
in Rom. So glaubte und verkündete es die Kirche bis in das vergangene
Jahrhundert.
Paulus tritt diesem christlichen Hochmut entgegen. Es war für ihn
selbst schwer zu ertragen, dass seine jüdischen Glaubensgeschwister
sich so ablehnend gegenüber dem Christusglauben verhielten. Was wird
aus Israel, dem von Gott erwählten Volk? Diese Frage hat ihn umgetrieben.
Er hat die Schriften der Bibel studiert und nach einer Antwort abgesucht.
Und er hat eine Antwort gefunden. Diese verkündet er mit dem Anspruch,
dass Gott selbst ihm Einblick in seine Pläne gewährt habe. "Ich
will euch in Gottes Plan einweihen", schreibt er an die Glaubensbrüder
und -schwestern in Rom. In der Luther-Übersetzung ist von einem Geheimnis
die Rede.
Das göttliche Geheimnis, das Paulus erkannt hat und der Gemeinde
in Rom mitteilt, ist ein sehr kom-plizierter Gedankengang.
Das Fazit lautet: Gott ist treu. Er steht zu seinem Bund, den er mit Israel
geschlossen hat. Er wird allen, Juden und Nichtjuden seine Gnade zuwenden.
Alle sollen sein Heil erfahren.
Davon sind wir heute genauso weit entfernt wie die Menschen damals zur
Zeit des Paulus.
Genau das war der Grund dafür, dass die Juden sich nicht dem Glauben
an Jesus Christus anschlossen. Sie sagen: Wie kann das sein, dass Jesus
der Christus, der Erlöser und Retter der Welt ist, wo doch die Welt
so unerlöst ist wie nur was, voller Unfrieden, voller Hass und Gewalt?
Wo ist der Frieden, den er gebracht hat? Wo ist das Heil, das mit ihm
gekommen ist?
Nach wie vor bestehen gläubige Juden darauf, dass der Erlöser
noch nicht gekommen ist. Und dass dann, wenn er kommt, die Welt wirklich
erlöst sein wird, dass dann Frieden und Gerechtigkeit auf der Erde
einkehren. Bis dahin ist einem jeden Gläubigen aufgegeben, tatkräftig
zu hoffen. Jeder Glaubende hat die Aufgabe, mit Taten der Nächstenliebe
das Kommen des Erlösers anzu-bahnen.
Allerdings, und das macht es mir schwer mit dem gegenwärtigen Israel:
Die Politik des jetzigen Staates Israel scheint nicht darauf ausgerichtet
zu sein, dem erhofften Retter den Weg zu bereiten. Israels Politik trägt
vielmehr seitJahrzehnten dazu bei, dass die ganze Region nicht zur Ruhe
kommt und dass kein Frieden einkehrt im Nahen Osten. Bilder von schrecklichem
Leid, von Tod und Zerstörung bekommen wir nun schon seit Wochen zu
sehen. Verursacher dieser Verwüstungen sind israelische Raketen,
Bomben und Granaten. Zur Rechtfertigung wird oft angeführt, dass
die Gewalt Israels provoziert wird von islamistischen Ter-rorgruppen.
Was die anrichten sehen wir auch im Irak. Es ist grauenhaft. Und es ist
menschenverach-tend, wie die ihre eigenen Leute als menschliche Schutzschilder
missbrauchen. Natürlich hat Israel das Recht, sich gegen die Terroristen
zu verteidigen. Aber Israel hat von seinem Glauben her auch die Pflicht,
zum Frieden mit seinen Nachbarn beizutragen. Denn darauf läuft die
Thora, das Grundgesetz Israels, darauf laufen die Weisungen Gottes hinaus:
Dass alle Menschen den Schalom, das Heil erfahren.
Nun frage ich mich: Ist der heutige Staat Israel das, was die Bibel meint,
wenn sie von Israel spricht? Die Politik des Staates Israel lässt
mich sehr zweifeln daran.
Von seinem Selbstverständnis her ist der Staat Israel ein jüdischer
Staat im Lande Israel, die Heimat des jüdischen Volkes. In der Unabhängigkeitserklärung
vom 14. Mai 1948 heißt es:
Der Staat Israel wird der jüdischen Einwanderung und der Sammlung
der Juden im Exil offenstehen. Er wird sich der Entwicklung des Landes
zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit
und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt
sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse
und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechti-gung verbürgen.
Er wird Glaubens- und Gewissens-freiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung
und Kultur gewährleisten, die Heiligen Stätten unter seinen
Schutz nehmen und den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen
treu bleiben.
Wir reichen allen unseren Nachbarstaaten und ihren Völkern die Hand
zum Frieden und zu guter Nachbarschaft und rufen zur Zusammenarbeit und
gegenseitigen Hilfe mit dem selbständigen jüdischen Volk in
seiner Heimat auf.
Der Staat Israel ist bereit, seinen Beitrag bei gemein-samen Bemühungen
um den Fortschritt des gesamten Nahen Ostens zu leisten.
Wer oder was ist Israel? Diese Frage hat auch Paulus gestellt. Er macht
in den Kapiteln, in denen er sich mit Israel beschäftigt, eine Unterscheidung.
Er sagt: "Nicht alle, die aus Israel sind, sind Israeliten. Nicht
alle, die Abrahams Nachkommen sind, sind Gottes Kinder. Sondern nur die,
denen der Segen Gottes verheißen ist, sind seine Kinder." (Kapitel
9,6-8) Zu Israel, zum Volk Gottes, gehört man also nicht einfach
durch seine Abstammung. Zum Gottesvolk gehört man durch Gottes Zuwendung
und dadurch, dass man diese im Vertrauen annimmt.
Paulus sagt es so:
"Wenn man von Herzen glaubt,
so wird man gerecht;
und wenn man mit dem Munde bekennt,
so wird man gerettet.
Es ist hier kein Unterschied zwischen Juden und Griechen; es ist über
alle derselbe Herr,
reich für alle, die ihn anrufen.
Denn wer den Namen des Herrn anrufen wird,
soll gerettet werden (Joel 3,5).
Juden und Nichtjuden, alle sollen das Heil erfahren.
Notwendig ist es, dieser Hoffnung tatkräftig Aus-druck zu verleihen.
Die Rettung aus aller Not und die Befreiung von Hass und Gewalt, die kann
nur allen gemeinsam widerfahren. Nur so kann Frieden einkehren, indem
Israelis und Palästinenser sich gegenseitig akzeptieren, sich gegenseitig
ihr Lebensrecht zugestehen, sich auch gegenseitig den Lebensraum zugestehen.
Das scheint im Moment vollkommen utopisch zu sein. Mit Israel hoffen wir,
die Kirche, auf einen neuen Himmel und eine neue Erde. Hoffen heißt,
auch das Unmöglich Scheinende für möglich zu halten. Für
Israel hoffen wir, dass die Regierung sich besinnt und Wege einschlägt,
die zum Frieden führen. Für die Palästinenser hoffen wir,
dass die Terroristen an Einfluss verlieren und die Menschen sich durchsetzen,
die nichts anderes wollen, als in Frieden zu leben.
Das gilt wohl für die meisten Menschen aller Völker: Sie wollen
in Frieden leben, ohne Angst.
Mit seiner Unabhängigkeitserklärung von 1948 hat sich der Staat
Israel in die Tradition der göttlichen Weisungen und Propheten gestellt.
Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte sind israelische Politiker immer weiter
von diesem Weg abgekommen. Es ist an der Zeit, dass sie von friedlich
gesinnten Menschen im Lande und von befreundeten Regierungen im Ausland
erinnert werden an das, was der jüdische Volksrat 1948 gelobt hat.
Paulus spricht davon, dass Teile Israels verstockt und ungehorsam Gott
gegenüber sind. Sein fester Glaube aber ist: "Gott hat alle
im Ungehorsam vereint, weil er allen sein Erbarmen schenken will. Und
was er aus Gnade geschenkt hat, das nimmt er nicht zurück. Wen er
einmal berufen hat, der bleibt es."
So bleibt es auch dabei: Israel ist das Volk, das Gott erwählt hat,
um sein Heil unter den Menschen kundzutun. Immer wieder im Laufe seiner
Geschichte haben die Staatsführer Israels sich von Gottes Wegen abgewendet.
Immer wieder hat Gott das Volk auf seine Wege zurückgeholt. Deshalb
gilt der Satz: Mit Israel hoffen wir, die Kirche, auf einen neuen Himmel
und eine neue Erde, auf Frieden unter den Menschen und dass allen Menschen
Heil widerfahren wird.
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