Erinnerung an damalige Zeiten
"Befreit zum Widerstehen". So lautet das Motto der Friedensdekade,
die mit dem heutigen Sonntag beginnt. Christen in Deutschland bitten für
den Frieden und denken darüber nach, wie Frieden werden kann. Sie,
die Sie heute Ihre Goldene Konfirmation feiern, sind nach dem Krieg geboren.
Ihre Eltern haben den Krieg erlebt als Jugendliche oder junge Erwachsene.
Sie, die zehn Jahre zuvor, 1954, konfirmiert wurden, sind im Krieg geboren.
Mit denen, die 1949 konfirmiert wurden, gehören Sie zu der Generation
der Kriegskinder. Zwei von Ihnen konnten im letzten Kriegsjahr ihre Konfirmation
feiern, einer in dem Jahr, in dem das Deutsche Reich den Krieg begann.
So sind Sie alle selbst oder über Ihre Eltern vom Krieg betroffen.
Und Sie alle sind froh und dankbar, dass Sie seitdem in Frieden leben
konnten.
Sie haben erlebt, wie unser Land sich zur führenden Nation in Europa
entwickelte. Man spricht vom deutschen Wirtschaftswunder. Dazu haben Sie
selbst und Ihre Eltern erheblich beigetragen.
Die 1954 Konfirmierten und mehr noch die heutigen Goldkonfirmanden wuchsen
in einer Zeit des wachsenden Wohlstandes auf. Das Geld war immer noch
knapp, aber es war genug zu essen da. Und mit der Zeit hatten alle auch
wieder ein Dach über dem Kopf. Die Geschenke zur Konfirmation hielten
sich im Rahmen. Es gab Pralinen, Sammeltassen, Azaleen. Die Mädchen
bekamen eine Strumpftasche für die Strümpfe; denn die waren
teuer. Es wurde auch schon Geld geschenkt. Wenn man spendable Verwandte
hatte, kamen 150 Mark zusammen. Gefeiert wurde überall zu Hause.
Man räumte das Wohnzimmer aus und baute einen langen Tisch auf, an
dem viele sitzen konnten. Am Tag der Konfirmation feierte man mit den
Verwandten. Am nächsten Tag lud man die Nachbarn ein. Das war 1964.
Sehr kärglich ging es noch 1949 zu. Einer erinnert sich, dass sein
Vater Schwarzhandel betrieben hat. Da man wenig Geld hatte, handelte man
mit Zigaretten und anderen Dingen und tauschte sie gegen Lebensmittel
ein. So hat der Vater einen Braten für die Konfirmationsfeier organisiert.
Mit dem Geld knapsen mussten Sie aber auch noch in den sechziger Jahren.
Damals gab es neben der Gaststätte Jägerhof das "Luxor",
ein Kino. Jeden Sonntag lief da von 15 bis 17 Uhr ein Film. Da traf sich
die Jugend, wenn sie das nötige Kleingeld hatte. Der Eintritt kostete
50 Pfennig. Lächerlich für heutige Verhältnisse, damals
für junge Leute viel Geld. Das musste man erst mal haben. Da wurde
gern morgens in der Kirche gespart, wenn der Klingelbeutel herumging.
Statt zwanzig Pfennig warf man nur zehn hinein, so hatte man schon etwas
fürs Kino.
Ein Muss für alle jungen Leute war der Beatlesfilm "Yeah, Yeah,
Yeah". "Da war die Hölle los", erinnern sich alle,
die damals noch Platz im "Luxor" fanden.
Seit 1963 entfesselten die Beatles wahre Begeisterungsstürme. Wo
sie hinkamen, fielen Mädchen reihenweise in Ohnmacht. Die vier "Pilzköpfe"
machten nicht nur eine fetzige Musik, sie brachten auch einen neuen Haarstil.
Seit ihrem Auftreten wurden bei den Jungen die Haare lang und länger.
Auch ich selbst habe mich diesem Trend nicht verschlossen. Meinem Großvater,
der bei uns im Haus wohnte, hat das sehr missfallen. Aber meine Eltern
duldeten es, dass die Haare nach der Konfirmation nicht mehr mit dem Rasierapparat
kurz gehalten wurden.
Was den Musikgeschmack anging, bildeten sich zwei große Parteien:
Beatles oder Rolling Stones, wer macht die bessere Musik? "A Hard
Days Night" oder "It´s all over now". Das waren die
Titel, die 1964 ganz oben standen. Manchen gefiel auch "Tell Me"
die Rückseite der Stones-Platte. Wer wen besser fand, das war eine
Geschmacksfrage, die auch Brüder miteinander ausfochten. Neben den
Rockbands gab es noch die Softies, die Musik zum Schmusen machten: die
Bee Gees.
Für Sie, die Jubilare und Jubilarinnen, begann nach der Konfirmation
der Ernst des Lebens. Gemeinsam ging man damals auf die Volksschule. Die
endete nach der achten Klasse vor den Osterferien. Damals war zu Ostern
das Schuljahr zu Ende. Ab dem 1. April ging es mit der Lehre weiter.
Viele von Ihnen blieben auch nach der Konfirmation der Gemeinde verbunden.
In den sechziger Jahren begann die deutsche Reisewelle. Die Deutschen
entdeckten Italien und die Berge in Österreich. Pastor Blank fuhr
mit Jugendgruppen nach Stall in Kärnten und in die Steiermark. In
der Ramsau hatte die Gemeinde ein Haus, in dem regelmäßig Freizeiten
stattfanden. Oft fuhren auch Gruppen dorthin, um am Haus Reparaturen und
Verschönerungsarbeiten durchzuführen. Es war, so habe ich den
Erzählungen entnommen, eine schöne Zeit.
Erinnerung an die Konfirmation
Auch an die Zeit im Unterricht erinnern Sie sich gerne. Sie mussten viel
auswendig lernen. Das waren Sie von der Schule her gewohnt. Lange Gedichte
wie "Das Lied von der Glocke", "Erlkönig", "Herr
von Ribbeck" und die "Bürgschaft" haben sie komplett
gelernt. "Das ist gut für die Birne", meinte einer. Im
Konfirmandenunterricht war der Katechismus zu lernen. Der besteht aus
129 Fragen und Antworten. Hängen geblieben ist bei einigen die Frage
21: "Was ist wahrer Glaube?" Und was antwortet der Katechismus,
wollte ich wissen. "Weiß ich nicht", war die Antwort.
Dafür wusste der Gefragte, welche seine Lieblingsfrage war: die Frage
3. Nicht des Inhalts wegen, der klingt nicht so erbaulich: "Woher
erkennst du dein Elend?", heißt die Frage. Sympathisch ist
die Kürze der Antwort. Sie besteht aus vier Worten, die man sich
bis heute leicht merken kann: "Aus dem Gesetz Gottes."
Jeden Sonntag mussten Sie zur Kirche gehen. Sie empfanden das nicht als
lästige Pflicht. Man traf sich und konnte sich für den Nachmittag
verabreden.
Und heute sind sie hier und feiern Ihr Wiedersehen. Und nicht nur das.
Wir feiern die Erinnerung an Ihre Konfirmation. Eine alte jüdische
Weisheit lautet: Das, woran man sich erinnert, wird zum Teil des eigenen
Inneren. Durch das Erinnern lassen wir das damalige Geschehen wieder lebendig,
gegenwärtig werden. Was Ihnen bei der Konfirmation zugesagt wurde,
wird Ihnen heute aufs Neue zugesprochen.
Damals hat der Pastor Ihnen segnend die Hände aufgelegt. Einsegnung,
so heißt diese Zeremonie. Sie wurden eingesegnet.
Aus dem Timotheusbrief haben wir gerade gehört: "Ich erinnere
dich daran, dass du wach rufst die Gabe Gottes, die in dir ist durch die
Auflegung meiner Hände."
Das Handauflegen bei der Einsegnung ist keine Magie. Es ist mit einem
Wort verbunden. Der Pastor spricht dazu ein Segenswort. Nach biblischem
Verständnis haben Segensworte eine besondere Kraft. Sie bewirken,
was sie sagen. Durch die Segensworte und die Handauflegung ist Ihnen damals
eine göttliche Kraft mitgegeben worden.
Diese Kraft hat Sie in Ihrem Leben begleitet, Ihnen in schwierigen Situationen
geholfen; die hat Sie getröstet und gestärkt und bis auf den
heutigen Tag durchs Leben getragen.
Was Ihnen damals für Ihr Leben mitgegeben wurde, ist in diesem Satz
auf sehr schöne Weise zusammengefasst:
"Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft
und der Liebe und der Besonnenheit."
Statt Frucht, so habe ich gelesen, heißt es wörtlich übersetzt:
"Gott hat uns nicht gegeben den Geist des Verzagens."
Erinnerung an die Kraft zu widerstehen
Sie kennen vielleicht Phasen in Ihrem Leben, wo Ihnen zum Verzagen war.
Verzagen heißt, den Mut verlieren, keine Kraft mehr in sich spüren,
in Depression verfallen, nichts mehr hören und nichts mehr sehen
wollen.
Anlässe und Gründe zu verzagen gibt es viele.
Die unter Ihnen, die den Krieg miterlebt haben, auch die, die als Kinder
der Kriegsgeneration aufgewachsen sind, haben neben vielen anderen Lektion
auch diese Lektion gelernt: Aufgeben geht nicht. Wer verzagt, wer den
Mut verliert, geht unter. Also heißt es kämpfen. Die Kraft
zum Widerstehen gegen die Zumutungen des Lebens, die haben Ihnen schon
die damaligen Lebensumstände mitgegeben. Und die ist Ihnen durch
die Konfirmation in besonderer Weise zugesprochen worden: "Gott hat
uns gegeben den Geist der Kraft."
Ich kenne eine ganze Reihe von Ihnen und weiß: Mit dieser Kraft
haben Sie bis heute Ihr Leben gemeistert.
Natürlich ist das so, ich kenne das inzwischen auch von mir selbst:
Je älter man wird, desto mehr braucht man diese Kraft zum Widerstehen.
Mit 64, 65 Jahren fühlt man sich noch jung. Da fängt das Leben
bekanntlich erst an, wie Udo Jürgens gesungen hat. Aber man spürt
doch, dass man nicht mehr siebzehn ist, auch nicht mehr vierzig oder fünfzig.
Das merkt man erst recht, wenn man 75, 80, 85 oder gar 90 ist oder bald
wird. Da wird jeder Tag zum Kampf gegen die Schmerzen, gegen die Schwere
des Daseins. Der Körper, der einem einmal ein guter Freund war, wird
mehr und mehr zur Last. Das ist der Lauf der Dinge. Wir sollen uns deshalb
nicht grämen, nicht hadern und auch dem Vergangenen nicht nachtrauern.
"Gott hat uns nicht gegeben den Geist des Verzagens".
Er hat uns gegeben den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.
Lebenskraft und -mut und die Liebe zum Leben, zu den Mitmenschen, das
gehört beides eng zusammen. Liebe zum Leben, das heißt für
mich: Ich freue mich dazu sein. Wenn ich Menschen zum achtzigsten Geburtstag
besuche, erzählen Sie mir oft, welche Krankheiten sie schon durchgemacht
haben und dass alles nicht mehr so geht wie früher. Ich sage dann
gern: "Freuen Sie sich doch, dass Sie noch da sind."
Schon in den Reihen der Goldkonfirmanden sind einige nicht mehr da. Erst
recht bei denen, die ihre Diamantene oder Eiserne Konfirmation feiern.
Noch weniger Menschen erleben ihren 85. oder gar 90. Geburtstag. Ein Grund
zu Dankbarkeit und Freude an dem, was man noch erleben kann.
Ein besonderer Tag
Der heutige Tag ist ein besonderer Tag, nicht nur für Sie persönlich,
auch für unser ganzes Volk. Es gibt mehrere Ereignisse, an die uns
dieser Tag erinnert. Neben vielen schrecklichen Erinnerungen hält
dieser Tag auch eine sehr ermutigende bereit: Vor 25 Jahren ging das Tor
auf, das bis dahin fest verschlossen war. Der eiserne Vorhang fiel, Menschen
schlugen Löcher in die Mauer, die bis dahin unüberwindlich war.
Mit ihrem friedlichen Widerstand haben die Menschen in Leipzig und anderen
Orten Ostdeutschlands die Mauer zum Einsturz gebracht.
Westdeutsche Medien haben dabei mitgeholfen.
Um 22.42 Uhr eröffnete Moderator Hanns Joachim Friedrichs die ARD-Tagesthemen
mit folgenden Worten: "Guten Abend, meine Damen und Herren. Im Umgang
mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich leicht ab, aber
heute Abend darf man einen riskieren: Dieser neunte November ist ein historischer
Tag: die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann
geöffnet sind, die Tore in der Mauer stehen weit offen." Eine
Liveschaltung zum Grenzübergang Invalidenstraße zeigt das Gegenteil
- er ist noch geschlossen. Doch nach den Tagesthemen setzt ein Massenansturm
auf die Grenzübergänge ein. In der Nacht des heutigen Tages
tanzten die Menschen zu Tausenden auf der Mauer. Unbeschreibliche Freudenszenen
spielten sich ab. Wirklich ein historischer Tag, an dem wir heute zusammen
sind. Eine Wunde des Krieges, den viele von Ihnen als Kinder erlebt haben,
ist an diesem Tag geheilt worden: die Teilung unseres Landes.
Ich wage zu sagen: Hier zeigt sich, dass Gott mit seiner Kraft nicht nur
in unserem persönlichen Leben, sondern auch in der Geschichte der
Völker am Werke ist.
Viele der Menschen in Leipzig und anderswo, die damals auf die Straßen
gingen, haben sich zuvor zu Friedensgebeten in den Kirchen versammelt.
Dort ist ihnen Kraft und Mut zugesprochen worden. Dort sind sie aufgerufen
worden, auf jeden Fall friedlich zu bleiben und sich von der Staatsmacht
nicht provozieren zu lassen. Der Geist, der von den Friedensgebeten ausging,
hat die Menschen immer mutiger werden lassen. "Auf alles waren wir
vorbereitet. Nur nicht auf Kerzen und Gebete", sagte der SED-Funktionär
Horst Sindermann später.
Auch diese Erinnerung an das, was vor 25 Jahren in unserem Land geschehen
ist, können wir mitnehmen.
Gott gibt Kraft zum Widerstehen im Großen wie im Kleinen. Der Geist
der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit, der ist Ihnen mit dem Auflegen
der Hände bei Ihrer Konfirmation zugesprochen worden. Den wünsche
ich Ihnen heute erneut für Ihren weiteren Lebensweg.
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