Was recht ist
Vor kurzem kam im Konfirmandenunterricht mal wieder diese Frage auf:
"Die Sonja hat schon ein paar Mal gefehlt. Wird die trotzdem konfirmiert?"
"Ich habe mit ihr gesprochen", antwortete ich, "sie hat
mir Gründe für ihr Fehlen genannt." "Welche denn?",
wollten die anderen wissen. Ich gab ihnen zu verstehen: "Es sind
persönliche Gründe, darüber kann ich nicht sprechen."
Damit waren sie nicht zufrieden: "Es ist trotzdem ungerecht. Wir
sind immer gekommen." Eine andere brachte noch ein weiteres Argument
vor: "In der Gemeinde, in der meine Freundin zum Unterricht geht,
darf man höchstens zweimal fehlen. Sonst wird man nicht konfirmiert."
Offenbar betrachten einige die Konfirmation als Lohn für eine Leistung,
die sie zwei Jahre lang erbracht haben.
Was ist gerecht? Eine Frage, die sich im Alltag ständig stellt.
Eine Frage, an der Familien zerbrechen. Wie die Familie Müller. Auch
den Namen habe ich aus der Luft gegriffen. Die Eltern hatten ein Haus
gebaut mit sechs Mietwohnungen. In dem Haus wohnte auch die Familie selbst.
Zwei Töchter gingen aus dem Haus. München wurde ihr neues Zuhause.
Dann starb der Vater. Die jüngste Tochter blieb in der Nähe
der Eltern und kümmerte sich um ihre Mutter. Die wurde schwer krank
und starb ebenfalls. Das Haus hatte sie vor ihrem Tod der jüngsten
Tochter überschrieben, die inzwischen wieder dort eingezogen war.
Ihre beiden Schwestern musste sie natürlich auszahlen. Doch nun entstand
unter den Geschwistern ein Streit über den Wert des Hauses. Der Streit
kam vor Gericht. Das Gericht legte nach den vorliegenden Gutachten den
Wert des Hauses fest. Die beiden Münchener Töchter empfanden
den festgelegten Betrag als viel zu niedrig. Sie fühlten sich ungerecht
behandelt. Der Kontakt unter den Geschwistern brach vollständig ab.
Was sich im Kleinen abspielt in der Konfirmandengruppe oder in vielen
Familien, das zeigt sich zur Zeit auch im Großen. Viele tausend
Menschen aus aller Herren Länder sind in den vergangenen Monaten
in unser Land geströmt, und es kommen immer mehr.
Die Vereinten Nationen melden die größte Flüchtlingswelle
seit dem Zweiten Weltkrieg, Deutschland soll laut einer Studie beliebtestes
Einwanderungsland nach den Vereinigten Staaten sein.
Manche ziehen daraus den Schluss, Deutschland werde überrannt und
die Regierung tue nichts. In Umfragen bekunden inzwischen mehr als 40
Prozent der Deutschen, sie hätten Sorge, dass sich der Islam in Deutschland
zu stark ausbreite. Dabei sind die Mehrzahl der Einwanderer keine Muslime.
Den diffusen Ängsten vieler Menschen und dem angestauten Frust bietet
Pegida ein Forum. Ein Redner sprach in der Vorweihnachtszeit von armen
Rentnern, die ohne Strom in kalten Wohnungen säßen und sich
kein Stück Stollen leisten könnten, während der Staat Asylbewerbern
voll ausgestattete Unterkünfte zur Verfügung stelle. "So
sieht's aus!" und "Genauso isses!", rief die Menge. (FAZ
7.12.14)
Es ist das Gefühl, zu kurz zu kommen, das viele Menschen umtreibt.
Dieses Gefühl nutzen die Pegida-Anführer aus und schüren
es mit ihren demagogischen Reden. Was sie damit schaffen, ist ein Klima
von Feindseligkeit. Menschen mit ausländischen Wurzeln, die schon
seit Jahren in Deutschland leben, sind nicht mehr sicher auf Deutschlands
Straßen.
Das berichtete das Fernsehmagazin "Report Mainz" am Dienstag.
Nach Recherchen des Magazins hat sich seit dem Beginn der Pegida-Demonstrationen
im Oktober die Gewalt gegen Flüchtlinge, Migranten und deren Unterkünfte
in Deutschland mehr als verdoppelt.
Pegida hat ein Klima erzeugt, in dem Gewalt gegen Migranten, vor allem
aber gegen Muslime gedeiht.
Rechtsextreme fühlen sich ermutigt, mit Worten und körperlicher
Gewalt Menschen mit ausländischen Wurzeln anzugreifen.
Drei Todsünden, wie sie die katholische Kirche kennt, kommen hier
zusammen: Die Gier, der Neid und die blinde Wut. Der Kabarettist Wilfried
Schmickler hat es in seinem Gedicht "Die Gier" auf den Punkt
gebracht:
Dann hört er aber auf, der Spaß.
So kommt zu Neid und Gier der Hass.
Und sind die erst einmal zu dritt,
fehlt nur noch ein ganz kleiner Schritt,
bis dass der Mensch komplett verroht
und schlägt den anderen halbtot.
Sich vergleichen mit anderen und aus dem Vergleich heraus Neid und Hass
entwickeln, das gehört zu unserem Menschsein. In unserer miteinander
vernetzten Welt werden wir ständig darauf gestoßen zu gucken,
was andere haben.
Beim Nachdenken darüber fiel mir am Dienstag die Bild-Zeitung ins
Auge, die bekannt ist für ihre Stimmungsmache: "Das sollen die
Griechen alles kriegen!" So lautet die fette Schlagzeilen und darunter
wird aufgelistet: "Weihnachtsgeld für 1,3 Millionen Rentner,
Immobiliensteuer weg, Keine Strom- und Arztkosten für 300.000 Haushalte,
Mindestlohn 30% rauf, 1000 Euro für Putzfrauen (halbtags)."
Eine solche Schlagzeile schürt Neid und obendrein Wut: "Und
das alles auf unsre Kosten!"
Das Vergleichen mit anderen, Neid und das Gefühl, zu kurz zu kommen,
gibt es auch unter Christen und in Christengemeinden. Jesus hat diesen
Gefühlen und der Feindseligkeit, die sich daraus entwickeln kann,
die Geschichte entgegen gestellt, die wir eben gehört haben.
Wie so oft, nimmt er Bilder aus dem Alltag: Ein Hausherr stellt Arbeiter
für seinen Weinberg ein. Er vereinbart mit den Arbeitern einen festen
Lohn: einen Denar. Damit kann der Mann seine Familie einen Tag lang ernähren.
Noch dreimal geht der Besitzer los, um weitere Leute einzustellen: am
Morgen, zu Mittag und am Nachmittag. Mit denen vereinbart er keinen festen
Lohn, sondern er sagt: "Ich will euch geben, was recht ist."
Diese Ankündigung weckt Spannung. Was ist recht?
Eine Stunde vor Feierabend holt der Hausherr noch einmal Leute. Sie haben
den ganzen Tag auf Arbeit gewartet, aber niemand brauchte sie. Am Ende
des Tages hätten sie mit leeren Händen nach Hause gehen müssen.
Doch nun können sie wenigstens eine Stunde arbeiten. Viel konnten
sie dafür nicht erwarten. Aber etwas mehr als nichts.
Doch nun kommt es zur Auszahlung. Die Letzten bekommen zuerst ihren Lohn:
Ein Denar. Eine Riesenüberraschung. Das ist viel mehr, als sie erwarten
konnten. Die den ganzen Tag lang gearbeitet haben, dazu in der Mittagshitze,
rechnen im Stillen, was sie wohl bekommen. Zwölfmal länger haben
sie gearbeitet, die zwölffache Leistung gebracht, - es wird wohl
nicht gleich der zwölffache Lohn sein. Aber wenn es für eine
Stunde einen Denar gibt, dann müssten für zwölf Stunden
doch wohl sechs Denar drin sein. Mindestens. So rechnen sie.
Dieses Rechnen ist normal. So würde ich auch rechnen. Im Konfirmandenunterricht
habe ich die Geschichte vorgelesen. Die Jungen und Mädchen finden
auch: Wer mehr leistet, soll auch mehr bekommen. Das ist gerecht.
Doch offenbar rechnet der Hausherr anders und handelt nach einer anderen
Gerechtigkeit. Auch die Arbeiter der ersten Stunde bekommen einen Denar.
Als sie am Morgen gleich als erste genommen wurden, waren sie froh. Ein
Denar, das ist ja nicht schlecht. Doch nun sind sie enttäuscht.
Warum eigentlich? Sie haben das bekommen, was der Hausherr mit ihnen vereinbart
hat. Damit waren sie am Anfang des Tages voll und ganz einverstanden.
Sie haben gearbeitet mit der Aussicht, am Ende des Tages genug zu haben,
um die Familie ernähren zu können. Damit waren sie zufrieden.
Doch nun sind sie es nicht mehr. Warum?
Ihre Enttäuschung, ihre Unzufriedenheit entsteht durch den Vergleich.
Eine Stunde Arbeit und zwölf Stunden Arbeit, und alle bekommen das
gleiche - das kann doch nicht gerecht sein!
Ich kann den Ärger der Leute gut verstehen. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft.
Entsprechend ist unser Denken und Empfinden geprägt. "Leistung
muss sich lohnen", bekommen wir ständig gesagt. Wer mehr leistet,
soll am Ende des Tages auch mehr mit nach Hause nehmen.
Dass der Hausherr in der Geschichte Jesu nicht nach dem Leistungsprinzip
handelt, ruft Ärger hervor. Der Ärger richtet sich hauptsächlich
gegen die Leute, die nur eine Stunde gearbeitet haben. Sie sind die Schwächsten.
Niemand hat sie eingestellt. Vermutlich haben sie nicht ihre Ellenbogen
benutzt, um in der ersten Reihe zu stehen. Vermutlich sahen sie körperlich
auch eher schwach aus, vielleicht waren sie älter als die anderen,
die zuerst genommen wurden. Es gibt viele Gründe, auf dem Arbeitsmarkt
nicht genommen zu werden, auch wenn man gern arbeiten will. Das alles
sehen die nicht, die zu den Glücklichen der ersten Stunde gehören.
Dass die Schwächeren genauso viel bekommen wie sie, das ruft ihre
Aggression hervor:
"Die da, die als Letzte gekommen sind,
haben nur eine Stunde gearbeitet.
Aber du hast sie genauso behandelt wie uns.
Dabei haben wir den ganzen Tag
in der Hitze geschuftet!"
Auch damit hält die Geschichte unserer Gesellschaft einen Spiegel
vor. Bei uns wachsen Ärger und Feindseligkeit gegen die Schwächsten.
Dazu zählen in erster Linie die Flüchtlinge:
"Die kommen her, bekommen dies und das, ohne etwas dafür zu
tun. Ich wohne schon immer hier, habe brav meine Steuern bezahlt, und
wer kümmert sich um mich?" So hört man Leute reden, die
bei Pegida mit demonstrieren. ´Die Griechen mit ihrer korrupten
Misswirtschaft, die sollen Weihnachtsgeld kriegen, was bei uns schon lange
gestrichen ist. Raus mit denen aus der europäischen Gemeinschaft!`
So denken nicht wenige, die die Schlagzeile der Bild-Zeitung gelesen haben.
Durch Vergleichen entsteht Neid. Aus Neid entstehen Ärger und Feindseligkeit.
Neid vergiftet das Klima unter den Menschen. "Was guckst du so scheel",
fragt der Hausherr den Beschwerdeführer in Jesu Geschichte.
Die Geschichte hält uns einen Spiegel vor und will uns als Zuhörer
dazu verleiten, unsere Sichtweise zu ändern. Der Gang der Erzählung
bringt uns erst einmal dazu, uns mit den Arbeitern der ersten Stunde zu
identifizieren. Ihren Ärger können wir gut nachvollziehen. Jesus
möchte aber, dass wir einen Rollentausch vornehmen und das Ganze
aus der Sicht des Hausherrn betrachten. Er hat allen versprochen, ihnen
zu geben, was recht ist.
Die ersten bekommen den vereinbarten Lohn. Das ist vollkommen in Ordnung.
Alle anderen, auch die Letzten bekommen auch einen Denar. Recht ist für
den Hausherrn, was den Leuten gerecht wird. Was haben sie von einem Zwölftel
Denar oder einem Viertel Denar? Davon kann niemand satt werden. Er gibt
allen so viel, dass sie wieder einen Tag über die Runden kommen.
Alle haben genug. Das ist die Gerechtigkeit, die Gott will. Wie schön
wäre es, wenn alle sich darüber freuen könnten.
Die Konfirmanden können sich miteinander freuen, wenn sie alle konfirmiert
werden. Die drei Schwestern könnten Neid und Ärger hinter sich
lassen; denn alle haben genug. Ob eine etwas mehr hat, als die anderen,
was spielt das für eine Rolle? Jede könnte für sich mit
dem, was sie hat, zufrieden sein.
In unserem Land ist genug da an Platz und an Lebensmitteln, um Menschen
aufzunehmen, die bei uns Zuflucht suchen. Darauf, dass Menschen, die als
Flüchtlinge Unsägliches erlitten haben, bei uns Zuflucht bekommen,
muss niemand neidisch sein.
Natürlich gibt es Gründe, sich aufzuregen über schreiende
Ungerechtigkeit und dagegen zu demonstrieren. Aber der Ärger darf
sich nicht gegen die Schwächsten der Gesellschaft richten. Er muss
sich gegen die Stärksten richten, gegen die, die mit ihrem Geld Gesetze
und Politik in unserem Land und weltweit bestimmen. Die ungerechte Verteilung
des Reichtums bei uns und weltweit, das ist der eigentliche Skandal, die
unersättliche Gier der Reichen. Die achtzig reichsten Menschen der
Erde besitzen so viel, wie die ärmere Hälfte der Menschheit
zusammen. Auf einen Reichen kommen also 45 Millionen Arme. Der unvorstellbare
Reichtum Einzelner hat bei weitem das Maß dessen, was recht ist,
überschritten.
Die Schere zwischen Reichen und Armen geht immer weiter auseinander.
Diese Entwicklung ist es, die vielen Menschen Angst macht und die sie
fragen lässt: Wo bleibe ich? Was kriege ich ab von dem gesamten Kuchen?
Hier geht es nicht um Neid, hierliegt wirklich etwas im Argen, sehr im
Argen.
Jeder bekommt, was er zum Leben braucht, nicht weniger, aber auch nicht
mehr. Das ist in Gottes Augen gerecht. Mit seiner Geschichte wirbt Jesus
um Solidarität. Um die Solidarität der Ersten mit den Letzten;
um die Solidarität der Leistungsträger mit denen, die nicht
so gut können.
Als Christen sind wir dazu berufen, weiterzusagen, was wir von Jesus gehört
haben. Wir sind berufen, Werte wie Solidarität und Gerechtigkeit
hochzuhalten; Denn nur dort, wo es gerecht zugeht, können Menschen
auf Dauer in Frieden zusammenleben.
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