"Wie geht es in der Gemeinde?", fragte ein Herr, den ich zu
seinem achtzigsten Geburtstag besuchte. Der hatte die Nachricht gelesen
in der Samstagszeitung vom 24. Januar. Die Schlagzeile lautete: "Rekordhöhe
bei den Kirchenaustritten. Die evangelischen und katholischen Gemeinden
in Duisburg müssen immer mehr Austritte verkraften."
Der Artikel nannte Zahlen: "Es ist nichts Neues, dass die christlichen
Kirchen seit Jahren Schäfchen verlieren. Aber im vergangenen Jahr
hat dieser Abwärtstrend an Rasanz noch zugelegt: 2014 haben deutlich
mehr Duisburger der Kirche den Rücken zugekehrt, als noch im Jahr
zuvor. Das belegen die Zahlen der Duisburger Amtsgerichte. 1388 Katholiken
(350 mehr als 2013) und 1263 Protestanten (528 mehr als 2013) entschieden
sich im vergangen Jahr für den Austritt." Nun wollte der Herr
wissen, ob auch in Wanheim viele Menschen der Gemeinde den Rücken
gekehrt haben.
"Nicht mehr als sonst, ungefähr zwanzig", antwortete ich.
"Die Zahl der Austritte ist in Wanheim recht niedrig." Zu Hause
habe ich anhand der Presbyteriums-Protokolle nachgezählt: Genau zwanzig
Personen aus unserer Gemeinde haben im vergangenen Jahr ihren Austritt
aus der evangelischen Kirche erklärt.
Der stetige Schwund an Gemeindegliedern liegt hauptsächlich daran,
dass wir wesentlich mehr Todesfälle haben als Taufen. Es ist inzwischen
eher die Ausnahme, dass Eltern ihr Kind bald nach der Geburt taufen lassen.
Manche Kinder werden getauft, wenn sie in den Kindergarten gehen oder
bei der Konfirmation. Doch gerade mal die Hälfte der Kinder, die
mindestens ein evangelisches Elternteil haben, werden bis zu ihrer Konfirmation
getauft.
Das heißt: Die Zahl der Menschen wächst, die von Anfang an
keiner Kirche angehören. Zu der Zeitungsmeldung gab es ein paar
gehässige Kommentare im Internet: "Macht den Laden endlich dicht",
schrieb einer, der sich "Atheist" nennt. "Wer braucht so
etwas schon?", fragte ein anderer, der sich "Einzigartiger"
nennt.
Laut einer Umfrage in Holland, die ebenfalls vor kurzem veröffentlicht
wurde, bezeichnen sich 25 Prozent der Befragten als Atheisten und nur
17 Prozent als gläubig. Die große Mehrheit steht der Frage,
gläubig oder nicht gläubig?, gleichgültig gegenüber.
Die aktuellen Zahlen aus den Niederlanden spiegeln sich auch in den letzten
Untersuchungen aus Deutschland oder der Schweiz wider. Hier sind die Verhältnisse
ähnlich.
Das heißt: Als Kirche befinden wir uns in rauen Zeiten. Wir werden
zunehmend in Frage gestellt. Immer mehr Menschen haben das Gefühl,
uns nicht zu brauchen.
Ich vermute, das hängt mit der Individualisierung unserer Gesellschaft
zusammen. Jeder lebt für sich, jeder ist seines Glückes Schmied
und versucht, für sich das Beste herauszuholen. Rücksichtnahme
auf andere, auf die Gemeinschaft wird zu einem Fremdwort. Genauso der
Einsatz in einer Gemeinschaft oder für eine Gemeinschaft. Sportvereine
leiden darunter genauso wie wir.
Kirche wie Vereine leben von der Beziehung der Menschen untereinander.
Immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft aber leben beziehungslos oder
suchen nur solche Beziehungen, die ihnen etwas nützen. ´Was
soll ich für eine Gemeinschaft bezahlen, von der ich nichts habe`,
so denken viele, die aus der Kirche austreten. Genauso fragen viele: ´Was
nützt es mir, wenn ich mein Kind taufen lassen?` Alles wird nach
seinem Wert befragt, der sich irgendwie rechnen muss. Dieses Denken hat
leider auch in unserer Kirche Einzug gehalten.
Aus der Entwicklung, wie ich sie beschrieben habe, ziehen Kirchenleitungen
und manche Presbyterien den Schluss: Wir müssen effektiver werden.
Wir müssen unsere Botschaft besser verpacken.
Unternehmensberater hielten Einzug in der Kirche und sorgten dafür,
dass die Kirche ihre eigentliche Berufung aus den Augen verlor. Die Betriebswirtschaft
löste die Theologie als Leitwissenschaft ab. Der Vizepräsident
der Evangelischen Kirche in Deutschland schlug in einem Vortrag im Mai
des vergangenen Jahres vor: "Wir sollten unsere hochspezifischen
Inhalte öffentlich kommunizieren als eine Art "existentielle
Premium-Marke", als ein herausragende Angebot für jene, die
sich ihr Seelenheil etwas kosten lassen wollen." Er setzt auf das
"Premiumprodukt Glaube". Diese Idee hat er sich von einer Zigarettenfirma
abgeguckt, die mit einem der erfolgreichsten Sprüche aller Zeiten
für ihre Marke geworben hat: "Es war schon immer etwas teurer,
einen besonderen Geschmack zu haben".
Der Umbau der Kirche zu einem Wirtschaftsunternehmen schreitet voran.
Wir in Wanheim halten diesen Weg schlicht für falsch. Damit sind
wir zum Glück nicht allein. Wir sind der Überzeugung, dass die
Kirche nahe bei den Menschen sein muss.
Das hat auch der Vizepräsident der EKD inzwischen eingesehen. In
dem genannten Vortrag sagte er in seiner von wirtschaftlichem Denken geprägten
Sprache: "Manchmal glaube ich, dass die Themen "Beheimatung,
Nähe und Identität" geistliche Kernaufgabe aller organisatorischen
Bemühungen" sind. Er sieht "Glaube als "Premiumprodukt
der Beheimatung". ("Hört uns jemand? Kirche in der Öffentlichkeit
2030?" - Vortrag zur 48. Jahrestagung Öffentlichkeitsarbeit
"Alles bleibt anders!?"
von Thies Gundlach, 14. Mai 2014)
Der Schwund an Kirchenmitgliedern und damit verbunden der Schwund an
Einfluss und Macht innerhalb der Gesellschaft macht Leuten in den Kirchenleitungen
Angst. Es ist schon fast Panik, in der sie bewährte Strukturen der
Kirche über Bord werfen.
Das heutige Evangelium ermutigt zu mehr Gelassenheit. In der Hektik,
in der Kirchenleitungen den Umbau der Kirche vorantreiben, ist dies schon
beinahe ein Fremdwort.
"Ein Sämann ging aus, zu säen seinen Samen." Ich habe
dabei das Bild von Vincent van Gogh vor Augen. Er hat den Sämann
gemalt vor der untergehenden Sonne. Mit dem linken Arm hält er den
Beutel, in dem der Samen ist. Mit dem rechten wirft er in weitem Schwung
den Samen aus. Ruhig geht er seinen Weg über den Acker. Gleichmäßig
wirft er den Samen überall hin.
Nach heute in der Kirche geltenden Maßstäben muss man fragen:
Ist das effizient, was er macht? Müsste er nicht vorher den Boden
untersuchen, Stellen markieren, an denen nur eine dünne Erdschicht
auf felsigem Boden liegt, ebenso andere Stellen, die von Disteln und anderem
Unkraut bewachsen sind. Dazu müsste er Vogelscheuchen aufstellen,
um die Vögel davon abzuhalten, den Samen gleich wieder aufzupicken.
All das tut er nicht. Er nimmt in Kauf, dass drei Viertel seiner Saat
nichts bringt. Weiß er nicht, dass der Same ein "Premiumprodukt"
ist, das man nicht einfach so in die Gegend wirft?
Offenbar kümmert er sich nicht darum, was mit dem Samen geschieht.
Seine Aufgabe als Sämann ist es zu säen.
Das Gleichnis vom Sämann ist eins der wenigen, die die drei Evangelisten
Matthäus, Markus und Lukas fast gleichlautend in ihr Evangelium aufgenommen
haben. Es ist das einzige, dem sie eine Deutung angefügt haben, die
auch in allen drei Evangelien ähnlich ist. Das spricht dafür,
dass sie dieses Gleichnis und seine Deutung für sehr wichtig gehalten
haben. Der Samen, so lautet die Deutung, ist das Wort Gottes. Es wird
ausgesät ohne Rücksicht darauf, ob der Empfänger bereit
und in der Lage ist, es zu hören. Offenbar muss der Sämann auch
nicht sparsam mit seinem Samen umgehen. Er kann ihn bedenkenlos überall
hin ausstreuen auch auf felsiges Gelände, auch dorthin, wo Dornen
wachsen. Offenbar hat er genug davon. Ihm geht es nicht darum, möglichst
effektiv zu arbeiten. Ihm geht es darum, den Samen auszustreuen.
Anscheinend kümmert es ihn auch nicht, wenn einiges gleich die Vögel
fressen und anderes nach kurzem Aufblühen schnell wieder eingeht.
Der Sämann sät.
So sehe ich unsre Aufgabe als Gemeinde. Wir sind dazu da, das Wort Gottes
weiter zu geben.
Die Barmer Theologische Erklärung sagt es in der sechsten und letzten
These so: "Der Auftrag der Kirche besteht darin, an Christi Statt
durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes
auszurichten an alles Volk."
Zu diesem Auftrag gehört es natürlich auch, Bedingungen zu
schaffen, dass Menschen die Botschaft des Evangeliums hören wollen.
Dazu gehören Räume, in denen sich Menschen wohl fühlen.
Dazu gehört eine Atmosphäre, durch die Menschen sich willkommen
fühlen. Dazu gehört, dass in der Gemeinde spürbar ist,
was die Jahreslosung sagt. Hier ist jede und jeder angenommen wie sie
oder er ist. Hier darf jeder sein, auch wenn er sich mit den Gebräuchen
unseres Gottesdienstes nicht auskennt.
Als Gemeinde bemühen wir uns, die Schwelle niedrig zu halten, in
dieses Haus oder drüben in unsere Kirche einzutreten.
Gottes Wort wird nicht nur hier und in der Kirche verkündet. Dies
geschieht auch, wenn sich ein paar Menschen zum Termin mit der Bibel treffen.
Das geschieht, wenn Jugendliche ihr monatliches Mitarbeitertreffen haben,
beim Kinderbibeltag, im Schulgottesdienst, in der Frauenhilfe, im Konfirmandenunterricht.
"Warum kommen die eigentlich?", fragte mal ein Student, der
ein Praktikum in der Gemeinde machte und erlebte, wie uninteressiert manche
Konfirmanden sind.
Schon seit Jahrzehnten beklagen Menschen in den Gemeinden: Nach der Konfirmation
sieht man sie nicht mehr.
Ich freue mich über alle, die sich darauf einlassen, knapp zwei Jahre
am Konfirmandenunterricht teilzunehmen. Was davon hängen bleibt,
das habe ich nicht in der Hand. Ich hoffe, dass einiges von dem, was wir
da aussäen, auf gutes Land fällt und weiter wächst. Manchmal
bekommen wir als Gemeinde das zu spüren, wenn ehemalige Konfirmanden
wiederkommen und sagen: "Auf jeden Fall möchte ich in der Kirche
getraut werden. Hier bin ich konfirmiert worden."
Umgekehrt tut es mir weh, wenn bei den Namen der Ausgetretenen ehemalige
Konfirmanden sind, die Mutter oder der Vater eines Jungen, den ich gerade
konfirmiert habe.
Das empfinde ich so, wie den Samen auf felsigen Boden oder unter die Disteln
werfen. Die Erfahrung, dass manches vergeblich ist, zumindest ohne erkennbaren
Erfolg, diese Erfahrung haben offenbar schon die Mitglieder der ersten
Gemeinden gemacht. Auch Jesus selbst kannte diese Erfahrung. Die Evangelien
berichten, dass ihn an manchen Orten die Leute nicht hören wollten.
Dann ist er weiter gezogen.
Angesichts der Tatsache, dass wir in der Kirche immer weniger werden,
kann man in Resignation und Depression verfallen. Heute nennt man das
"Burnout". Etliche Kolleginnen und Kollegen leiden darunter.
Die Kirchenleitung ist dabei Maßnahmen zu treffen, um dem vorzubeugen.
Man kann angesichts der Erfahrung, dass wir als Kirche an Bedeutung verlieren,
in hektische Aktivitäten verfallen, wie ich sie anfangs beschrieben
habe.
Man kann auch schlicht und einfach bei der Sache bleiben und seine Arbeit
weiter tun. Wie der Sämann, der Jahr um Jahr hingeht und den Samen
ausstreut. Dazu fühle ich mich durch das Gleichnis ermutigt. Trotz
mancher Misserfolge und Enttäuschungen tun wir hier unsere Arbeit.
Wir, und ich beziehe die Jugendleiterin, die Presbyterinnen und Presbyter
und alle, die in der Gemeinde mitarbeiten, mit ein, wir tun unsere Arbeit,
weil wir wissen und glauben: Was daraus wird, liegt nicht allein in unserer
Macht. Dass der Same aufgeht, wächst und Frucht bringt, das bewirkt
Gott selbst mit seinem Segen. So hoffen wir, dass Gott auch zu dem, was
wir in der Gemeinde tun, seinen Segen gibt.
Und es ist ja so: Immer wieder finden sich Menschen, die am Leben der
Gemeinde teilnehmen, es mitgestalten und dabei bleiben.
Der Evangelist Lukas deutet den Teil des Ackers, auf dem der Same Frucht
bringt, so: "Das aber auf dem guten Land sind die, die das Wort hören
und behalten in einem feinen, reinen Herzen und bringen Frucht in Geduld."
Als einziger von den drei Evangelisten gebraucht er hier das Wort "Geduld".
Die neuere Übersetzung der Basisbibel schreibt: "Was auf guten
Boden fällt, steht für die Menschen, die das Wort mit offenem
und bereitwilligem Herzen hören. Sie bewahren es und halten durch
und bringen so reiche Frucht."
Durchzuhalten, dazu ermutigt das Gleichnis. Dazu braucht es die Geduld
und die Gelassenheit des Sämanns. Bleiben wir geduldig, und bleiben
wir gelassen. Und vertrauen wir darauf, dass Gott seinen Segen gibt,
damit Frucht aus unserem Tun wächst.
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