"Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat,
so muss der Menschensohn erhöht werden."
Der Satz erinnert an ein Geschehen während der langen Wanderung der
Israeliten durch die Wüste. Da wurde das Volk von giftigen Schlangen
geplagt. Viele Israeliten starben nach einem Schlangenbiss. Da riefen
sie Mose um Hilfe: Er möge den Herrn bitten, dass er die Schlangen
wegnimmt. Und Mose bat für das Volk. Gott erhörte die Bitte
und gab Mose die Anweisung: Mach dir eine Schlange aus Kupfer und richte
sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist, soll sie ansehen. Dann
wird er am Leben bleiben."
Mose folgte der Anweisung Gottes. Er machte eine Schlange aus Kuper und
richtete sie an einem Stab hoch auf. Wer gebissen wurde und die Schlange
ansah, blieb am Leben.
Die um einen Stab gewundene Schlange war auch den alten Griechen bekannt.
Da gab es den Gott der Heilkunst. Der hieß Asklepios. Sein Markenzeichen
ist der Stab, um den sich eine Schlange windet. Die Schlange steht sinnbildlich
für die Tugenden des Arztes und die Vorzüge der Medizin: für
die Verjüngung durch Häutung, für Scharfsichtigkeit, Wachsamkeit
und für Heilkraft. Der Äskulapstab, benannt nach dem Gott Asklepios,
ist zum Symbol von Ärzten und Apothekern geworden. Die alten Griechen
schrieben dem Stab magische Kräfte zu.
Das taten die Israeliten nicht. Sie wussten: Nicht die kupferne Schlange
verschafft Heilung. Sie ist vielmehr ein Zeichen, das auf Gott, den alleinigen
Retter verweist. Er gewährt denen Rettung, die ihm vertrauen.
Darin besteht für den Evangelisten Johannes die Parallele zu Jesus.
Auch er wird an einem Holz erhöht. Diesen am Kreuz erhöhten
Jesus versteht Johannes ebenfalls als ein Zeichen, das auf Gott hinweist.
Es geht Johannes darum, Gott im Kreuz Jesu wahrzunehmen. Deshalb spricht
er von "Erhöhen". Das beschreibt zunächst einmal schlicht,
was bei einer Kreuzigung geschieht. Nachdem der Verurteilte am Kreuz befestigt
ist, wird er mitsamt dem Kreuz aufgerichtet. In diesem Wort "Erhöhen"
klingt zum anderen die Auferweckung des Gekreuzigten an. Jesus wurde von
den Toten auferweckt und zu Gott in den Himmel emporgehoben. So ist der
am Kreuz aufgerichtete Jesus das Zeichen, dass Gott in diesem Leiden und
Sterben da ist und aus dem Tod rettet.
Den Israeliten sollte der Blick auf die kupferne Schlange helfen, auf
die heilende Kraft Gottes zu vertrauen. So soll der Blick auf das Kreuz
Jesu uns Christen helfen, zu vertrauen darauf, dass Gott im Leiden und
Sterben an unserer Seite ist.
"Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen
Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern
das ewige Leben haben."
Von dem am Kreuz erhöhten Jesus wendet Johannes seinen Blick dem
irdischen Geschehen zu. Er schreibt: "Mit Jesus ist das Licht in
die Welt gekommen. Die Menschen lieben aber die Finsternis mehr als das
Licht, denn ihre Werke sind böse."
Die Evangelische Kirche in Deutschland hat den heutigen Sonntag der Fürbitte
für bedrängte und verfolgte Christen gewidmet. Dabei richtet
die EKD den Blick besonders in die Türkei. Dort sind die Christen
eine verschwindend kleine Minderheit. Unter den 76 Millionen Einwohnern
des Landes wird die Zahl der Christen auf gerade mal 100.00 geschätzt.
Dabei ist die Türkei ein Zentrum des christlichen Glaubens gewesen.
Antiochia zum Beispiel, am südlichen Zipfel der heutigen Türkei,
an der Grenze zu Syrien und am Mittelmeer gelegen, war zur Zeit des Paulus
nach Rom und Alexandria die drittgrößte Stadt im römischen
Reich. Etwa 500.000 Einwohner hatte die Stadt. Die christliche Gemeinde,
die Paulus in Antiochia gründete, wurde seine Heimatgemeinde. Von
hier aus brach er zu seinen Missionsreisen auf. Zwischen den Reisen kehrte
er immer wieder nach Antiochia zurück. In Aniochia wurden die Menschen,
die sich zur Gemeinde Jesu zählten, zum ersten Mal Christen genannt
(Apg 11,26). Antiochia war Heimat für Christen.
Ein anderes Zentrum der Christen war die Stadt Byzanz, das spätere
Konstantinopel und das heutige Istanbul. Kaiser Konstantin I. verlegt
330 seinen Herrschersitz von Rom in die damals noch kleine Stadt Byzanz.
Damit hielt auch das Christentum dort Einzug. Eines der bedeutendsten
christlichen Bauwerke entstand im sechsten Jahrhundert in Byzanz: die
Hagia Sophia. Sie wurde die Krönungskirche der byzantinischen Kaiser
(seit 641) und die Kathedrale des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel.
Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 wurde
alles Christliche aus der Hagia Sophia entfernt oder durch Putz verdeckt.
Aus der Kirche machten die Osmanen ihre Hauptmoschee. Auf Anregung Atatürks,
des ersten Präsidenten der Republik Türkei, beschloss der Ministerrat
im November 1934, die Moschee in ein Museum umzuwandeln. Seit dem vergangenen
Jahr fordern nationalistische Politiker und konservative Muslime in der
Türkei, die Hagia Sophia wieder als Moschee zu nutzen. Der Chef der
größten türkischen Jugendorganisation sagt: "Wir
Muslime stellen in diesem Land heute die Mehrheit, also haben wir das
Recht zu bestimmen. Das ist doch demokratisch, oder?"
Christen haben in der Tat in der Türkei nichts zu sagen. Weil sie
in der Türkei ihren Glauben nicht frei leben können, sind schon
viele Christen ausgewandert. Der in Göttingen lebende Theologe Gabriel
Rabo ist ein syrischer Christ. Er sagt: "Die Türkei ist heute
fast christenfrei. Das Christentum verschwindet einfach. In Antiochia
gibt es keine Christen mehr, nur in der Umgebung leben noch einige Orthodoxe.
Es steht zwar im Grundgesetz, dass alle Menschen gleich sind, doch in
der Praxis ist dies ganz anderes. Die Christen dürfen im Militär
keine höheren Aufgabe bekommen und weder Richter, noch Polizisten,
noch Schulbeamte werden." (aus dem Papier der EKD)
Wie es Christen in der Türkei ergeht, können Menschen, die
aus der früheren Sowjetunion zu uns gekommen sind, gut nachempfinden.
Unter Stalin begann eine große Christenverfolgung. Die einst blühende
deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche in Russland wurde fast aller ihrer
Geistlichen beraubt. Es gab mal 51.413 evangelische Kirchen in Russland.
1937 wurde der letzte Pastor verhaftet, 1938 die letzte lutherische Kirche
geschlossen. Der Atheismus war offizielle Staatsideologie.
Zwei Frauen aus unserer Gemeinde erzählen: Als Mädchen standen
sie unter starkem Druck sich dem "Komsomol", dem sowjetischen
Jugendverband anzuschließen. Alle Jugendlichen, die dem Verband
angehörten, trugen ein rotes Halstuch. Bei E-Bay kann man so ein
Original Pionier-Halstuch mit einem sternförmigen Abzeichen ersteigern.
Die Eltern der beiden Mädchen Irene und Lidia waren christlich eingestellt
und erlaubten ihren Töchtern nicht, sich der Jugendorganisation anzuschließen.
Es gab höchsten zwei oder drei Jugendliche in einer Schulklasse,
die nicht das rote Abzeichen trugen und sich dadurch als Christen zu erkennen
gaben. Sie hatten dadurch zahlreiche Nachteile zu erleiden. In der Klassengemeinschaft
waren sie Außenseiter. Sie durften keine weiterführende Schule
besuchen und deshalb auch nicht studieren. Wie in der heutigen Türkei
kamen für sie nur einfache Berufe in Frage.
Zu ihren Versammlungen und Gottesdiensten trafen sich die Christen in
privaten Wohnungen. Einer der Männer übernahm die Rolle des
Versammlungsleiters. Er hielt dann auch eine Predigt. Eine besondere Ausbildung
dafür hatte er selbstverständlich nicht. Im Zuge der Perestroika
unter Gorbatschow, der Öffnung konnten sich Christen eigene Versammlungshäuser
bauen, die sie allerdings vollkommen selbst bezahlen mussten. Der Weg
dahin war weit. Fußwege von zehn Kilometer Länge waren normal,
um zur Kirche zu kommen.
Dann zerfiel das sowjetische Reich. Die Kasachen übernahmen die Herrschaft
in der ehemaligen Sowjetrepublik Kasachstan. Sie ließen die Deutschen
spüren, dass sie im Land unerwünscht waren. So sind viele ausgewandert
in die Heimat ihrer Vorfahren. Auch in Deutschland sind die Älteren
Fremde geblieben. Hier gelten sie vielfach als Russen, obwohl sie keine
Russen waren und von den Russen immer verfolgt worden sind.
Der Ratsvorsitzende der EKD schreibt: "Es gehört zu den kirchlichen
Kernaufgaben, sich für die freie Ausübung des Glaubens von Christinnen
und Christen in aller Welt einzusetzen. Neben dem politischen Einsatz
ist es das Gebet, das unseren Geschwistern Kraft gibt und sie ermutigt,
in ihrer Heimat das Evangelium zu bezeugen." Deshalb ruft er dazu
auf, in diesem Jahr für die Christinnen und Christen in der Türkei
zu beten und ihre Situation vor Gott zu bringen. Das wollen wir tun, ausführlicher
als sonst Fürbitte halten.
Doch zunächst noch einmal zurück zu unserem Bibeltext. Der
am Kreuz erhöhte und geschändete Gottessohn lenkt unseren Blick
auf die Liebe Gottes. "Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen
einzigen Sohn gab". Das lässt zunächst an Jesu Tod denken.
Die folgenden Verse aber machen deutlich, dass damit der gesamte Weg Jesu
auf Erden gemeint ist. Aus Liebe zu uns Menschen hat Gott seinen Sohn
zur Erde gesandt, um uns diese Liebe zu vermitteln. Gott wollte seine
Liebe von Mensch zu Mensch spürbar werden lassen. Er hat seinen Sohn
in die Welt gegeben, damit wir Menschen unser Leben im Licht der Liebe
Gottes sehen und selber Werke der Liebe tun.
"Was können wir tun angesichts der Christenverfolgungen in
Syrien, im Irak und in Libyen?" so fragte beim Gespräch nach
dem Gottesdienst am vergangenen Sonntag ein junger Mann. Worin kann unser
Liebesdienst gegenüber verfolgten Christen bestehen?
Ich habe geantwortet: "Vor Ort können wir nichts machen. Wir
können diesen Mörderbanden nicht gewaltsam Einhalt gebieten.
Wir können aber in unserem Land mithelfen, ein Klima zu schaffen,
das Flüchtlinge willkommen heißt. Das sehe ich als unsere kirchliche
Aufgabe an.
Vielen Christen bleibt nur die Flucht. Sie brauchen einen Ort, wo sie
Zuflucht finden. Es kann nicht sein, dass das so genannte christliche
Abendland Menschen im eiskalten Wasser des Mittelmeers zu Hunderten ertrinken
lässt. Gegen diese Abschottungspolitik müssen wir als Kirche
immer wieder lautstark protestieren.
Als Gemeinde müssen wir Menschen eine Heimat bieten, die aus anderen
Ländern zu uns kommen. Lidia und Irene und manche andere haben eine
Heimat bei uns gefunden. Hier sind sie nicht "Russen", sondern
Mitmenschen, Mitchristen. So soll es sein. So sollen es auch andere erleben,
die da, wo sie herkommen, nicht mehr leben können.
Der am Kreuz erhöhte Menschen- und Gottessohn weist uns hin auf den
Gott, der ein Herz hat für verfolgte und benachteiligte Menschen.
http://www.ekd.de/download/materialsammlung_reminiszere2015.pdf
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