Den Tod zum Freund machen
Was ist der Tod? "Der Tod ist die unabwendbare Störung des
Lebens." So hat es Nikolaus Schneider gesagt, als er mit seiner Frau
im Duisburger Klinikum zu einem Podiumsgespräch eingeladen war. "Eine
Störung des Lebens", ja, die Störung überhaupt.
Oder ist der Tod ein Freund, wie der heilige Franziskus in seinem Sonnengesang
anklingen lässt:
"Gelobt seist du, mein Gott,
durch unsere Schwester, den leiblichen Tod".
Viele Bilder versuchen das Geheimnis des Todes zu erfassen, das letztlich
niemand aufklärten kann. Wir wissen nur, was mit dem Tod endet: das
Leben hier auf dieser Erde. Wir glauben, was dann nicht mehr ist: Leid
und Schmerzen, Krieg und Gewalt, Trauer und Tränen. All das, was
uns in dieser Zeit das Leben schwer macht, wird nicht mehr sein. Aber
was wird sein?
Viele Menschen begnügen sich mit der Antwort: Nichts mehr. Nichts
mehr wird sein, nur noch Zerfall.
Anne Schneider sagte in dem Podiumsgespräch: "Für mich
ist der Tod eine Tür, durch die ich hindurchgehe." Eine Tür
von diesem Leben in ein anderes neues Leben ganz in Gottes Gegenwart.
"Was wird mit uns geschehen, wenn wir durch die Tür des Todes
geführt worden sind? Was wird uns begegnen?" So fragt Jörg
Zink und antwortet: "Wenn wir es genau nehmen, so wissen wir nichts.
Wir vertrauen. Wir glauben. Und was wir glauben, können wir einander
nur schwer vorzeigen. Aber nun gilt, was überall in unserem Leben
gilt: Was wir nicht erklären und vorzeigen können, das drücken
wir in Bildern aus. Und so ist alles, was die Menschheit je über
das Leben auf der anderen Seite sagen konnte, ein einziges buntes Bilderbuch.
Wir sehen über uns an schönen Tagen das Blau des Himmels: So
lichtvoll, so schön, so unendlich groß wird die Welt sein,
die wir nach unserem Tod betreten. Also reden wir vom Himmel. Dieses Wort
meint den Ort und das Licht, in dem Gott wohnt. "In den Himmel kommen",
heißt also, Gottes Nähe schauen, zu ihm heimkehren."
Tamara Dietl hat ihren an Krebs erkrankten Mann, den Regisseur Helmut
Dietl, begleitet in seinem Sterben. Sie sagt in einem Interview: "Der
Tod ist etwas Unfassbares, aber er hat auch einen Zauber. Wenn ich Abschied
nehmen kann, dann ist da zwar eine unendlich tiefe Trauer, aber es hat
auch etwas Tröstliches - für den, der stirbt, und für den,
der bleibt." (Die Zeit Nr. 45, 5.11.2015)
Das Unfassbare, das wir nicht erklären und vorzeigen können,
das drücken wir in Bildern aus. Auch Jesus redete zu seinen Freunden
und Freundinnen in Bildern. So sprach er von einer Einladung zu einem
festlichen Mahl. Von einer Hochzeit.
Die Geschichte von den zehn Brautjungfern ist der Evangeliumstext für
den heutigen Toten- oder Ewigkeitssonntag. Darum nehme ich sie als Bild
für das, was uns einst erwartet. In dem Bräutigam erkenne ich
den auferstandenen Jesus. So deutet es auch das Lied von Philipp Nicolai.
Ein großes Freudenfest wird sein, wenn er kommt und wir ihm entgegen
gehen. "Kein Aug hat je gesehn, kein Ohr hat mehr gehört solche
Freude".
Das ist schön für die, die gegangen sind. Es ist auch tröstlich
für uns, wenn wir glauben können: Es geht unseren Lieben gut.
Sie sind gut aufgehoben. Sie haben teil an dem Fest in Gottes Herrlichkeit.
Ein Fest ohne Ende.
Aber sie fehlen hier auf der Erde. Sie fehlen uns. Die Namen von 39 Menschen
haben wir gerade gehört. Menschen unserer Gemeinde, die seit dem
1. Dezember des vergangenen Jahres gestorben sind. Der Jüngste war
52, die Älteste 98, fast doppelt so alt. Die meisten sind über
achtzig geworden. Bei vielen von ihnen war das Sterben absehbar. Und es
war gut, dass sie gehen konnten.
Vor wenigen Wochen im Oktober habe ich das Sterben in der eigenen Familie
erlebt. Die Mutter meiner Frau wurde wegen starker Luftnot ins Krankenhaus
gebracht. Dort bekam sie eine Lungenentzündung mit starkem Fieber.
Innerhalb einer Woche war sie tot. Es ging unfassbar schnell. Viel zu
schnell, um mit dem Gefühl hinterherzukommen.
Das gleiche hörte ich vor zehn Tagen auf dem Waldfriedhof bei der
Beerdigung unserer lieben Katharina Schneider. Es ging so schnell. Auch
bei dem jungen Mann, der mit 52 gestorben ist, war das so. Er war eigentlich
auf dem Weg der Besserung, doch plötzlich ging's zu Ende.
Bei anderen war mehr Zeit, sich vorzubereiten. Da war es eine Erlösung,
eine Gnade, dass sie endlich gehen konnten. Für die einen war es
die Erlösung nach einem langen Lebensweg, der am Ende immer beschwerlicher
wurde. Für andere, jüngere Menschen die Erlösung nach hartem
Kampf aus schwerer Krankheit. Bei einigen war es auch ein ganz plötzlicher
Tod. Ohne Vorwarnung wurden sie aus dem Leben gerissen.
Plötzlich und auf ganz brutale Weise starben die Menschen, die in
dem Unglücksflugzeug auf dem Weg nach Hause waren. Auch Bekannte
von Mitgliedern unserer Gemeinde waren darunter.
Da zeigt der Tod sein zutiefst erschreckendes Gesicht. Er ist mehr als
eine Störung, eine Katastrophe, die unvermittelt ins Leben einbricht.
So auch bei den Anschlägen in Paris vor zehn Tagen.
Heute sind viele Menschen hier, die hautnah mit dem Tod in der eigenen
Familie zu tun bekommen haben.
Auch wenn das Sterben absehbar und in vielen Fällen unausweichlich
war, es bleibt der Schmerz, es bleibt die Trauer. Denn der oder die Verstorbene
fehlt. Was auch bleibt, sind Bilder und Erinnerungen. Bei manchen stand
ein Bild vor dem Sarg oder der Urne. So hat sie früher ausgesehen:
voller Energie, voller Lebensfreude. Es tut gut, sich an schöne Erlebnisse
und Zeiten erinnern zu können. Es tut gut, davon erzählen zu
können, von den wunderbaren Seiten des Verstorbenen zu sprechen,
wie auch von seinen Schattenseiten.
Denn kein Mensch ist nur gut und wunderbar. Jeder hat seine dunkle Seite,
die er im Leben gern versteckt, die seine Angehörigen aber natürlich
zu spüren bekommen. Es ist wichtig, in der Trauer den Verstorbenen
nicht zu verklären. Er war nicht makel- und fehlerlos.
Manchmal hören Trauernde den Rat, sie sollten den Verstorbenen loslassen.
Doch das geht nicht. Einen geliebten Menschen kann man nicht loslassen.
"Denn der Tod beendet das Leben, nicht aber die Liebe." (Rüggeberg,
S. 79)
Die Liebe hört niemals auf, wie der Apostel Paulus schreibt. "Trauernde
erfinden eine neue, innere Art der Liebe, die dem Verstorbenen einen festen
Platz in ihrem Leben einräumt." (Rüggeberg)
Manche besuchen den Verstorbenen regelmäßig auf dem Friedhof,
haben Bilder von ihm in der Wohnung, sprechen mit ihm, sehen sich Alben
von früher an, halten Gegenstände in Ehren, die sie mit dem
oder der Verstorbenen verbinden.
Mein Blick fällt durch das Fenster auf einen Kürbis aus Ton,
den man mit einer Kerze erhellen kann. Jeden Abend zünde ich in der
dunklen Jahreszeit eine Kerze an, so dass uns das lachende Kürbisgesicht
ins Zimmer leuchtet. Meine Schwester hat uns den Kürbis vor fünf
Jahren mitgebracht, wenige Wochen bevor sie so plötzlich starb.
Ja, ich selbst habe im Laufe meines Lebens auch einige sehr schmerzhafte
Verluste erlitten. Und je älter ich werde, desto mehr bekomme ich
hautnah mit dem Tod zu tun.
Vielleicht hilft es, den Tod nicht nur als Störung zu betrachten,
sondern sich ihn zum Freund zu machen. Aber wie soll das gehen?
Jesus gibt mit seiner Geschichte einen Hinweis. Er spricht von dummen
und von klugen Mädchen. Aus der Lutherbibel kennen wir sie als törichte
und kluge Jungfrauen.
Die Mädchen haben Fackeln dabei. Die dummen Mädchen sind dumm,
weil sie kein Öl mitgenommen haben. Der Bräutigam ließ
auf sich warten. Deshalb hätten sie genug Zeit gehabt, Öl zu
besorgen. Doch sie ließen gedankenlos die Zeit verstreichen, unterhielten
sich, bis sie müde wurden und einschliefen.
Die klugen Mädchen sind klug, weil sie sich auf ihre Aufgabe vorbereitet
haben, weil sie sich Gedanken gemacht haben über das, was notwendig
ist. Sie haben genug Öl dabei.
Wofür steht das Öl? In der Geschichte steht es für Licht.
Für uns ist Öl ein Wärmespender, es steht für Energie.
Einen Vorrat an Energie, an Lebenskraft haben sich die klugen Mädchen
zugelegt. Jesus stellt sie als Beispiel hin für das, was jeder Mensch
tun sollte: sich einen Vorrat zulegen an Lebensenergie. Wie aber macht
man das?
Eigentlich ganz einfach: Man muss das Leben lieben. Und das Geheimnis
ist: Je mehr man das Leben liebt, desto mehr kann einem auch der Tod zum
Freund werden. Das ist paradox. Doch die Lebenserfahrung vieler Menschen
bestätigt diesen Satz.
Ein Zeuge dafür ist der Pfarrer und Autor Jörg Zink. Er wird
am heutigen Sonntag 93. Vor zwei Jahren erschien sein letztes Buch. "Deine
Wege werden kürzer", so heißt es.
Zink stellt sich vor, dass er am Ende seines Lebens auf irgendeinem Felsen
in der Schwäbischen Alb steht, seiner Heimat, und dann, so wörtlich:
"dass ich dort noch einmal für mein wunderbares Leben in dieser
großen, schönen Welt danken kann, die ich so sehr geliebt habe".
(125) Seine Kraftquelle ist sein Vertrauen in Gottes Liebe, von der ihn
nichts und niemand trennen kann. "Denn wir fallen nicht ins Leere,
sondern in seine Liebe." (132)
Das ist auch so in der Trauer. Wir fallen nichts ins Leere, sondern sind
gehalten in Liebe. Das spürt man als Trauernder, wenn andere Menschen
die Trauer mit einem teilen. Alle Zeichen der Anteilnahme sind ein Trost.
Jedes gute Wort und vor allem jedes offene Ohr hilft, den Schmerz zu tragen.
Manchmal tut es auch gut, wenn andere einen in Ruhe lassen. "Ich
bin müde, sehr müde", sagt Tamara Dielt, die am 30. März
ihren Mann verloren hat.
Doch irgendwann spürt man, dass das Leben weitergeht. Das ist eine
Allerweltsweisheit, die oft so dahingesagt wird: Das Leben geht weiter.
Aber es ist so. Irgendwann ist auch die Freude am Leben wieder da. Der
Bräutigam kommt, er kommt auch uns entgegen. Jeden Tag will er uns
mitnehmen in das Fest des Lebens. Jeden Tag füllt er unseren Vorrat
auf an Lebensenergie, an Zuversicht und Vertrauen. Durch seinen Heiligen
Geist, der tröstet und Mut macht.
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