Leitartikel
Wozu Kirche? Gehen Gott und Glaube nicht auch ohne?
Ich führe ein Seelsorgegespräch. Es ist lang und intensiv.
Am Ende bedankt sich der Mann, der gar nicht in der Kirche war und
fügt hinzu: "Man kann ja auch ohne Kirche an Gott glauben."
- Der Satz geht mir nach. Ist das so? Klar, man kann an Gott glauben,
ohne einer Kirche anzugehören. Man kann ja auch Fußball
spielen, ohne einem Verein anzugehören oder sich politisch
engagieren, ohne in einer Partei zu sein.
Und doch ist Kirche etwas anderes. Selbst Jesus ist nicht alleine
durch die Lande gezogen, sondern er hat Menschen berufen, um mit
ihnen zusammen für Gottes Sache in Wort und Tat einzutreten.
Und ganz natürlich kommen die Menschen zusammen, wo sie es
in Wort und Tat mit Gott zu tun bekommen. Damals wie heute.
Deshalb meine ich: Gott, Glaube und Kirche im Sinne von Gemeinschaft
gehören zusammen. Dazu 4 Gedanken.
Das fängt schon bei den Kirchengebäuden an. Gut, dass
wir sie haben. Das geht nur gemeinsam. Ein ansprechender Kirchraum
tut meinem Glauben gut. Hier kann ich leichter aus dem Alltag heraustreten,
meditieren, beten, singen und mit anderen Gott in unserer Mitte
feiern. Hier erfahre ich Gottes Nähe anders als draußen.
Wenn die Krisen unserer Zeit mein Gemüt verdunkeln, betrachte
ich manchmal die Mauern unserer Wanheimer Kirche. Neulich habe ich
sie mal getätschelt wie ein Tierpfleger einen Elefanten. Und
ich dachte, was hat diese Kirche nicht schon alles erlebt. Zwei
Weltkriege, das Auf und Ab der nahen Stahlindustrie und und und.
Sie wird auch die gegenwärtigen Krisen überstehen. Gott
in unserer Mitte auf jeden Fall.
Kirchen weisen auf die Beständigkeit und Treue Gottes hin.
Ich fühle mich geborgen in einer Liebe, die unfasslich groß
ist - egal, wie stark oder schwach mein Glaube gerade ist. Ich kann
verstehen, warum viele Jugendliche sagen: hier bin ich getauft und
konfirmiert worden. Hier möchte ich auch mal heiraten.
Kirchen sind eigentlich Versammlungsorte. Wir Menschen sind auf
Gemeinschaft angewiesen. Das gilt besonders in Sachen Glauben und
Gott. Vieles können wir uns nicht selber sagen. Meinen Glauben
kann ich nur sehr bedingt im stillen Kämmerlein leben.
Glaube braucht Weitergabe, Gemeinschaft, Austausch und Inspiration.
Ich brauche die Bereicherung durch andere und die anderen brauchen
die Bereicherung durch mich. Meine Fragen, meine Zweifel, Erkenntnisse,
Freude, die bekanntlich ansteckend ist, brauchen Austausch und auch
Korrektur. Ohne Gegenüber vertrocknet meine Spiritualität.
Das ist eine tiefe Weisheit. Selbst die alten Einsiedler besuchten
sich gegenseitig. Gott will nicht zum Hausgötzen werden. Deshalb
verbindet er seinen Heiligen Geist immer mit Gemeinschaft.
Und Jesus lehrt uns zu beten: "Vater unser". Selbst wenn
ich es für mich alleine bete, bin ich bei jedem "uns"
in dem Gebet Teil einer umfassenden Gemeinschaft. Wer "mit
Ernst Christ sein will", wie Martin Luther es formulierte,
bekommt es immer mit "Kirche", mit menschlicher Gemeinschaft
zu tun. Mit allen Vor- und Nachteilen. Denn Gott ruft uns zusammen.
"In die Nachfolge Jesu tritt jeder alleine, in der Nachfolge
bleibt keiner alleine." So sagt das Dietrich Bonhoeffer. Und
ich denke: gut so! Denn die Probleme der Menschheit lösen wir
nur in gemeinsamer Verantwortung. So ist unser christlicher Glaube
stets verbunden mit dem Auftrag, für andere da zu sein, Stichwort
Nächstenliebe.
Das schreit geradezu nach Gemeinschaft. Eine einzelne Christenperson
kann keine Kindernothilfe betreiben, keine Telefonseelsorge oder
Obdachlosenhilfe. Die öffentlichen Aufgaben der Kirche brauchen
einen stabilen Rahmen, der von vielen gehalten wird. Oberbürgermeister
Sören Link hat den Beitrag unserer Kirche zur Stadtgesellschaft
etwa in Sachen Flüchtlingshilfe zu Recht gewürdigt. Das
Seelsorgegespräch mit dem oben erwähnten Mann konnte ich
nur führen, weil ich von einer Gemeinde beauftragt bin. Und
ich denke: ist doch eigentlich toll, was wir als Einzelpersonen
gemeinsam mit den anderen 56.722 Evangelischen in unserem Kirchenkreis
durch Kirche und Diakonie an Gutem bewirken, und zwar für die
ganze Stadtgesellschaft und darüber hinaus. Jede/r ist wichtig.
Das ist keine Floskel.
Unsere Welt ist kompliziert. Da gilt es, verantwortlich von Gott
zu reden und in seinem Sinne zu handeln. Deshalb haben wir gut ausgebildete
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Deshalb nimmt die Kirche über
die Theologie am wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs
teil. Irrwege in Kirche und Gesellschaft werden aufgearbeitet. Ich
brauche das vielstimmige Suchen auf allen Ebenen unserer Kirche
im Blick auf Gottes- und Glaubensvorstellungen und in der Meinungsbildung
in ethischen und politischen Fragen. Der Kirchentag in Nürnberg
mit über 70.000 Dauerteilnehmenden und den vielen kontrovers
diskutierten Themen hat gezeigt, wie das geht. So kann unser Glaube
sich entwickeln und der Unverfügbarkeit Gottes und der Komplexität
der Welt standhalten.
Ich bin heilfroh, dass wir als Christinnen und Christen gemeinsam
unterwegs sind.
Das ist herausfordernd, belebend und macht Spaß. So ist "Kirche"
immer auch, was wir draus machen. Etliche Veranstaltungen in unserem
Gemeindebrief laden uns dazu ein. Ich denke nur an das Gemeindefest,
den Mitarbeitendentreff, die anstehende Presbyteriumswahl und den
Tag des offenen Denkmals.
Wir sind von Gott reich gesegnet. Wirken wir segensreich.
Rolf Seeger
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